Mord unter Aufsicht: Machtkämpfe in Brasiliens Gefängnissen
Bei einem Massaker in brasilianischen Haftanstalten sterben 55 Menschen. Darin zeigen sich die verstörenden Zustände des Justizvollzugs im Land
Diesmal erwürgten oder erstachen die Täter ihre Opfer. Mit Bettlaken, bloßen Händen und angespitzten Zahnbürsten. Als alles vorbei war, zählte die Polizei 55 Tote und bat die Angehörigen der Opfer zu Identifizierung. Das Massaker ereignete sich am Sonntag und Montag in vier Haftanstalten in Manaus. Die Häftlinge brachten sich gegenseitig in ihren Zellen um. Auslöser war der Streit innerhalb einer Mafia.
In Brasiliens sorgte die Bluttat zunächst für wenig Aufsehen. Im Jahr 2017 wurden hierzulande rund 64.000 Menschen ermordet. Es ist ein trauriger Weltrekord. Er hat dazu geführt, dass die Brasilianer sich an die Nachrichten vom täglichen Töten gewöhnt haben.
Allerdings geschah das Massaker von Manaus quasi unter staatlicher Aufsicht. Zudem war es nicht das erste in der Stadt. Bereits im Januar 2017 starben bei einem Streit rivalisierender Mafiaorganisationen 56 Menschen in einem Manauenser Gefängnis. Die Täter filmten damals, wie sie die Leichen ihrer Opfer zerstückelten und mit ihren Körperteilen spielten.
Strukturelle Probleme in Gefängnissen
Dass sich die Geschichte jetzt wiederholen konnte, wirft ein düsteres Licht auf die katastrophalen Zustände in Brasiliens Haftanstalten. Der Gouverneur des Bundesstaats Amazonas bat um die Entsendung einer Spezialeinheit für Gefängnisaufstände. Außerdem wurden die Chefs der an dem Massaker beteiligten Mafia verlegt. Man brachte sie in Bundesgefängnisse, die als sicherer gelten als die Haftanstalten unter Länderaufsicht.
Dass es in Brasiliens Gefängnissen immer wieder zu Aufständen, Fluchten und Massakern kommt, hat strukturelle Gründe. Da ist erstens die Überfüllung: Rund 700.000 Menschen sind in Brasilien inhaftiert – nur die USA und China haben mehr Menschen eingesperrt. Aber Brasiliens Haftanstalten sind nur für etwas mehr als 400.000 Insassen ausgelegt. Allein in Manaus' fünf Gefängnisse sitzen mehr als doppelt so viele Männer ein wie vorgesehen. Die Überfüllung führt zu Aggressionen, Krankheiten und Kontrollverlust. Eine Untersuchung ergab, dass 2016 im Durchschnitt ein Häftling pro Tag ermordet wurde. Obwohl das Problem seit Jahren bekannt ist, tut der Staat so gut wie nichts dagegen.
Die Untätigkeit hat auch mit der verbreiteten Meinung zu tun, dass eine Gefängnisstrafe ein Instrument der Rache sei. Viele Brasilianer haben schlichtweg die Nase voll vom Verbrechen und keinen Nerv für soziologische Erklärungen oder die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte in den Gefängnissen. Ein Leser kommentierte das Massaker im Onlineforum der Zeitung „Extra“: „So etwas sollte es jede Woche geben.“ Ein anderer forderte: „Alle auslöschen!“
Von Bolsonaro befürwortet
Präsident Jair Bolsonaro gab dieser Haltung Ausdruck, als er 2017 über das erste Massaker von Manaus sagte: „Ich wünschte, 200.000 dieser Vagabunden würden getötet.“ Damals sprach Bolsonaro noch als Parlamentsabgeordneter. Die Wahlen 2018 gewann er dann mit dem Versprechen, eisern gegen Kriminelle vorzugehen. „Nur ein toter Bandit ist ein guter Bandit“, lautete sein Slogan. Über seinen Sprecher ließ Bolsonaro nun ganz staatsmännisch verbreiten, dass er „konsterniert“ über die Vorkommnisse sei.
Der zweite wichtige Grund für die Gewalt in Brasiliens Gefängnissen ist das organisierte Verbrechen. Es gibt im Land mehrere große Mafias, die ihre Allianzen untereinander häufig wechseln und ihre Konflikte in die Gefängnisse hineintragen. Es ist üblich in Brasilien, dass Häftlinge nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Mafia untergebracht werden. Einzig wer einen Hochschulabschluss hat, fällt nicht in dieses Raster.
So kommt es zu der absurden Situation, dass auch Häftlinge ohne Mafiazugehörigkeit sich bei ihrer Unterbringung für eine Mafia entscheiden. Diese sorgt dann für ihn - und fordert Gehorsam. Brasiliens Gefängnisse wurden so zu Rekrutierungsanstalten des organisierten Verbrechens.
Machtkämpfe in der Mafia
Das Massaker von Manaus aus dem Jahr 2017 ging auf eine Bruch der Allianz zwischen der Mafia Família do Norte (FdN) und dem aus São Paulo stammenden Primeiro Comando da Capital (PCC) zurück. Hinterher deckte eine Untersuchung schwere Versäumnisse des Staats auf, darunter beispielsweise fehlende Kommunikation: Man hatte Hinweise auf die Bluttat, war diesen aber nicht nachgegangen.
Das neuerliche Massaker hat wiederum mit einem Machtkampf innerhalb der Família do Norte zu tun. Zwei Gruppen bekämpfen sich bis aufs Blut. Ermordet wurden nun auch drei Männer, die an dem Massaker 2017 beteiligt waren. Nicht wenige Brasilianer wollen darin eine Form von Gerechtigkeit sehen.