Mythen um die Masernimpfung: Impf-Skepsis kann tödlich enden
Zur Impfwoche wehren sich Kinderärzte gegen Fake News über die Bekämpfung von Masern. Die Gefahr durch Komplikationen nach der Erkrankung ist höher als die der Impfnebenwirkung.
„Ein gesundes, kleines Kind geht zum Arzt, wird vollgepumpt mit einer massiven Injektion verschiedenster Impfstoffe, fühlt sich nicht gut und verändert sich – AUTISMUS. Viele solche Fälle!“ Das hatte Donald Trump, der heutige Präsident der USA, im Jahr 2014 getwittert und kürzlich anlässlich eines Schulbesuchs in ähnlicher Form wiederholt.
Die Befürchtung stützt sich auf eine von der Fachzeitschrift „The Lancet“ längst zurückgezogene Studie, deren Autor Andrew Wakefield von der britischen Ärztekammer 2010 die Berufserlaubnis entzogen wurde – weil er mit gefälschten Daten operiert hatte. In einigen wenigen Kinos läuft jetzt jedoch auch noch in Deutschland sein Film „Vaxxed“.
Bei 30 Prozent der Infizierten kommt es zu Komplikationen
So konstruiert der Zusammenhang zwischen Masernimpfung und Autismus ist, so klar ist der zwischen einer Infektion mit den hoch ansteckenden Viren und schweren Zweiterkrankungen in den Wochen danach, wenn das Immunsystem noch geschwächt ist: Drei von zehn Patienten haben Komplikationen, einer von 20 eine Lungenentzündung, einer von 1000 eine Entzündung des Gehirns, von der schwere Schäden zurückbleiben können.
Bevor in den sechziger Jahren Impfstoffe entwickelt wurden, starben jedes Jahr weltweit bis zu zwei Millionen Kinder an dem Virus. Es gibt keine Therapie, selbst in reichen Ländern wie Deutschland sterben noch immer einer oder zwei von 1000 Patienten, die sich mit Masern angesteckt haben.
450 Menschen in Deutschland haben sich schon 2017 infiziert
Ausgerottet, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) das seit Jahren fordert, sind die Masern in Europa – im Unterschied zu den USA – längst noch nicht. Seit Beginn des Jahres haben sich in Deutschland nach Auskunft des Robert- Koch-Instituts mehr als 450 Menschen infiziert, darunter 50 Säuglinge. Sie sind besonders in Gefahr, eine schlimme Spätfolge durch eine chronische Entzündung im Gehirn zu bekommen.
Tückischerweise macht diese seltene Subakute Sklerosierende Panenzephalitis sich erst Jahre nach der Infektion bemerkbar, wenn kaum einer mehr sie mit den Masern in Verbindung bringt. Sie endet mit Wachkoma und Tod. „Durch die Vermehrung der Masernviren wird das Gehirn zerstört, die Betroffenen verlieren nach und nach alle Fähigkeiten, die sie einmal besessen haben“, so beschreibt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) in einer aktuellen Mitteilung aus Anlass der Europäischen Impfwoche den schrecklichen Verlauf.
Babys sind besonders gefährdet, sich anzustecken, weil mit der zweimaligen Impfung, die die Ständige Impfkommission am Robert-Koch-Institut (Stiko) empfiehlt, aus medizinischen Gründen frühestens im Alter von neun bis elf Monaten begonnen werden sollte. In der Generation ihrer Eltern ist der Impfschutz jedoch nicht besonders zuverlässig, denn sie wurden in den 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts meist nur einmal geimpft.
Mehr als 95 Prozent der Bevölkerung sollten geimpft sein
Andererseits haben die Ungeimpften die Krankheit meist nicht mitgemacht, sodass sie auch auf diesem Weg keinen Schutz erworben haben. „Nur geschützte Mütter können die lebensrettenden Antikörper über das Nabelschnurblut an ihre Kinder weitergeben“, warnen die Kinderärzte. Gefährdet sind auch Kinder, die wegen einer Immunschwäche nicht geimpft werden können oder weil sie Medikamente nehmen müssen, die das Immunsystem dämpfen. Die „Kokonstrategie“ zu ihrem Schutz funktioniert aber nur, wenn mehr als 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sind.
Als vor zwei Jahren in Berlin ein Kind an Masern gestorben war, waren die Aufregung und die Impfbereitschaft für kurze Zeit groß. Die Ärztekammer Berlin forderte eine Impfpflicht für alle Kinder, die eine Kita oder Schule besuchen. „Unsere Kinder sind inzwischen gut, wenn auch manchmal zu spät geimpft“, sagt Martin Terhardt, in Berlin-Neukölln niedergelassener Kinderarzt und Stiko- Mitglied. Schuleingangsuntersuchungen zeigen, dass in fast allen Bundesländern mehr als 90 Prozent der Kinder beide Spritzen bekommen haben.
Keine Studiendaten bestätigen Verdacht gegen Konservierungsstoff
Allerdings müssen sich die Kinderärzte auch immer wieder mit Impfgegnern und -skeptikern auseinandersetzen. In den Gesprächen geht es zum Beispiel um den Konservierungsstoff Thiomersal, der von Wakefield angeschuldigt wird, das Autismus-Risiko zu erhöhen. Doch keine der verfügbaren Analysen von Studiendaten konnte den Zusammenhang bestätigen. In Deutschland werden zudem seit den 90er Jahren andere Konservierungsmethoden eingesetzt.
Eltern, die fürchten, dass Impfungen Allergien auslösen könnten, halten die Kinderärzte entgegen: In der DDR gab es die Impfpflicht – und deutlich weniger Allergien als im Westen. Nach der Wiedervereinigung sank in den neuen Bundesländern die Impfquote – die Allergieneigung nahm zu. Der „Plötzliche Kindstod“ (Sudden Infant Death Syndrome), der ebenfalls mit den Immunisierungen in Zusammenhang gebracht wurde, nahm dagegen drastisch ab, als die Ärzte den Eltern empfahlen, ihre Kinder nur noch in Rückenlage schlafen zu lassen.
Genau zu dieser Zeit nahmen die Mehrfachimpfungen zu, etwa die Immunisierung gegen Masern, Mumps und Röteln. Genau sie wird von Wakefield und anderen aber angeschuldigt, die Gesundheit der Kinder zu bedrohen.
Kinderarzt Terhardt musste sich dessen Film schon von Berufs wegen anschauen. Besonders irritierend findet er die Behauptung, dass die Einfach-Impfung gegen Masern angeblich ein geringeres Risiko für Autismus haben soll als die kombinierte Impfung gegen Masern, Mumps und Röteln. „Dazu gibt es weltweit keine einzige Untersuchung“, empört sich das Stiko-Mitglied. Allerdings ist ein anderer Zusammenhang denkbar. Regisseur Wakefield besitzt ein Patent für einen Impfstoff zur Einfach-Impfung.