"Harvey" wütet in Texas: Houston - die versunkene Stadt
Hurrikan "Harvey" hat Texas ins Chaos gestürzt, besonders dramatisch ist es in Houston. Schon jetzt gibt es Kritik am Krisenmanagement - und Warnungen vor erhöhten Gesundheitsrisiken.
Es hört einfach nicht auf. Nachdem der Wirbelsturm "Harvey" innerhalb weniger Tage in Teilen der Region um die Großstadt Houston in Texas so viel Regen niedergehen ließ, wie sonst in einem ganzen Jahr fällt, warnen Meteorologen und der US-Katastrophenschutz vor weiteren Sintfluten in den kommenden Tagen.
Hochwasser von Flüssen im Inland, das in Richtung Küste strebt, und bis zum Rand gefüllte Staudämme bringen zusätzliche Gefahren. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht – und Kritiker fragen, warum die Behörden die Menschen in der viertgrößten Stadt der USA nicht schon vor Ankunft des Sturms zum Verlassen ihrer Häuser aufriefen. Erinnerungen an die "Katrina"-Katastrophe von 2005 werden wach.
Mindestens seit einem halben Jahrhundert hat Texas keinen so zerstörerischen Hurrikan erlebt wie "Harvey"; manche Meteorologen sprechen vom schlimmsten Wirbelsturm in der Geschichte des Bundesstaates. Der Fernsehsender CNN bezifferte die bisher gefallene Regenmenge auf rund 420Milliarden Hektoliter. Im Stadtgebiet von Houston fiel die sonst in einem halben Jahr erwartete Regenmenge innerhalb von 24 Stunden, in umlegenden Gebieten wurde in wenigen Tagen die komplette Jahresmenge erreicht.
"Harvey" hatte sich über dem Golf von Mexiko aufgeladen
Mehrere Landkreise stehen unter Notstandsrecht, die Nationalgarde, das Militär und tausende Helfer aus Texas und anderen Bundesstaaten sind im Einsatz. Schon im Jahr 2001 war Houston von einem starken Wirbelsturm heimgesucht worden, der Schäden in Höhe von fünf Milliarden Dollar anrichtete – diesmal ist ein Vielfaches zu erwarten.
"Harvey", der sich über dem Golf von Mexiko mit Energie aufgeladen hatte, bewegt sich seit seiner Ankunft an der Küste von Texas in der Nacht zum Samstag nur noch langsam vorwärts, was den Niederschlag für die betroffenen Gebiete umso schlimmer macht. Am Montag walzte der Sturm Richtung Osten auf Louisiana zu, das vor zwölf Jahren von "Katrina" heimgesucht wurde. Mindestens bis Donnerstag soll es weiterregnen.
Rund sieben Millionen der knapp 28 Millionen Einwohner von Texas leben im direkten Einzugsbereich des Sturms; Houston hat zwei Millionen Einwohner. Wegen der starken Überschwemmungen konnten sich die Behörden bisher noch nicht um die eigentlichen Sturmschäden kümmern. "Harvey" hatte mit Windböen von bis zu 200 Stundenkilometern viele Gebäude zerstört und Stromleitungen zerrissen. Die Katastrophenschutzbehörde Fema sagt schon jetzt voraus, dass die Überwindung der Schäden von "Harvey" mehrere Jahre dauern wird.
Hunderttausende Menschen sind ohne Strom
Auch wirtschaftliche Folgen sind zu erwarten: Die Katastrophengegend ist ein wichtiges Zentrum der US-Ölindustrie. Viele Raffinerien und Häfen für Öltanker mussten wegen des Sturms und der Überschwemmungen geschlossen werden. Es wird Wochen dauern, bis die Schäden dort begutachtet sind. Energiepreise zogen am Montag bereits deutlich an. Gleichzeitig ließ die Aussicht auf den Wiederaufbau der Gegend den Aktienkurs von Baumarktketten ansteigen.
In Houston wurden Straßen überschwemmt und Verbindungswege unpassierbar gemacht. Mehrere Meter hohe Autobahnschilder versanken fast vollständig im Wasser, hunderttausende Menschen waren ohne Strom. Tausende Bewohner des Großraums Houston wurden von den rasch steigenden Wassermassen in ihren Häusern überrascht und mussten mit Booten oder Hubschraubern gerettet werden. Bis zum Sonntagabend wurden rund 2000 solcher Rettungsaktionen gezählt. Bisher sprechen die Behörden von mindestens fünf Toten, doch laut Medienberichten werden mehrere Dutzend Menschen vermisst.
50.000 Bewohner des Landkreises Fort Bend südwestlich von Houston wurden am Montag aufgerufen, ihre Häuser zu verlassen, weil Hochwasser des nahen Flusses Brazo eine neue tödliche Gefahr bildete: Im Brazo erwarteten Experten eine Wasserhöhe von 18 Metern, mehr als vier Meter höher als bei normalem Hochwasser. Ingenieure öffneten am Montag zudem die Schleusen an zwei Wasserreservoiren bei Houston, um Dammbrüche zu vermeiden.
Ein Konferenzzentrum in Houston wurde zur Notunterkunft für 5000 Menschen erklärt. Insgesamt müssen Unterkünfte für 30.000 Menschen gefunden werden. Die Behörden schätzen, dass insgesamt rund eine halbe Million Menschen auf die ein oder andere Art Hilfe brauchen wird.
Alligatoren sollen in die Stadt geschwemmt worden sein
Viele tausend Bewohner der Katastrophengegend wateten am Wochenende durch das hohe Wasser in den Straßen von Houston, um sich in Sicherheit zu bringen. Autos blieben stecken, Bewohner eines Altersheims wurden in Sicherheit gebracht, nachdem die Senioren in ihren Rollstühlen schon in hüfthohem Wasser gesessen hatten. Medien meldeten, die Überschwemmungen hätten Alligatoren ins Stadtgebiet geschwemmt. Houston liegt fast auf Meereshöhe und wird von mehreren Wasserläufen durchzogen, ist also ohnehin für Überschwemmungen anfällig.
Verzweifelte Menschen suchten in den überschwemmten Straßen vermisste Familienangehörige, tausende andere riefen über die Notrufnummern um Hilfe. Boote der Polizei, der Küstenwache und des Katastrophenschutzes sowie freiwilliger Helfer – einige von ihnen in Kajaks – waren im Dauereinsatz.
Der Katastrophenschutz rief die Betroffenen auf, nicht auf die Dachböden ihrer Häuser zu steigen, weil diese bei steigendem Wasserpegel zu tödlichen Fallen werden könnten. Für viele endete der Albtraum auch nach der Rettung nicht: Etliche standen ohne Geld, ohne Verbindung zu Angehörigen und ohne Informationen über Notunterkünfte buchstäblich vor dem Nichts.
Die verzweifelte Lage vieler Betroffener hat eine hitzige Debatte über mögliche Fehleinschätzungen der Behörden ausgelöst. Obwohl Houston nicht zum ersten Mal von Überflutungen bedroht wird, erging vor der Ankunft von "Harvey" kein Evakuierungsappell. Flutopfer beklagten, ihnen sei gesagt worden, sie sollten in ihren Häusern bleiben – doch dann mussten sie von Hubschraubern oder Booten von den Dächern geholt werden.
Schmutzige Wassermassen erhöhen Gesundheitsrisiken
Laut Gesundheitsexperten erhöhen die verunreinigten Hochwasserfluten auch die Risiken bakterieller Infektionen und von Moskitos übertragener Krankheiten. "Wir sprechen hier von hunderten verschiedenen Typen von Bakterien und Viren", sagte Ranit Mishori von der medizinischen Fakultät der US-Universität Georgetown der Nachrichtenagentur AFP.
Robert Glatter, Notarzt am New Yorker Lenox-Hill-Krankenhaus, warnte besonders vor dem erhöhten Risiko, an Cholera zu erkranken: "Die Ausbreitung von Cholera ist eine der schwerwiegendsten Gefahren nach jeder Naturkatastrophe, aber besonders nach Überflutungen infolge eines Hurrikans." Cholera-Bakterien werden durch verunreinigtes Trinkwasser und Essen übertragen und lösen starken Durchfall aus. Glatter warnte zudem vor der Zunahme von Viruserkrankungen wie dem West-Nil-Fieber oder Zika. Diese würden von Mücken übertragen, die sich in den stehenden Gewässern ansiedelten.
Mishori erinnerte auch an die Langzeitfolgen des Hurrikans Katrina, der im Jahr 2005 im US-Bundesstaat Louisiana gewütet hatte. "Eines der Vermächtnisse von Katrina war der Schimmel, von dem Schulen und andere Gebäude über eine lange Zeit hinweg befallen waren", sagte sie. Zudem hätten Studien erwiesen, dass ein Jahr nach derartigen Katastrophen auch die Zahl von Herzinfarkten und Schlaganfällen massiv steige.
Houstons Bürgermeister rechtfertigt sich
Houstons Bürgermeister Sylvester Turner rechtfertigte den Verzicht auf vorzeitige Evakuierungen mit dem Hinweis auf die dichte Besiedlung des Großraums um die Stadt und dem Argument, man könne nicht "6,5 Millionen Menschen auf die Straße schicken". Eine Anordnung zur Evakuierung hätte einen "Albtraum" ausgelöst, sagte Turner.
Kritik gibt es auch an widersprüchlichen Empfehlungen der Behörden. Der Gouverneur von Texas, Greg Abbott, hatte die Menschen in Houston schon am Freitag aufgerufen, sie sollten eine Flucht vor dem Sturm ins Auge fassen – und damit Bürgermeister Turner zu einer direkten Replik veranlasst, in der die Bewohner aufgerufen wurden, in ihren Häusern zu bleiben. Die lokalen Behörden, so hieß es, wüssten Bescheid.
Präsident Donald Trump sagte den betroffenen Regionen in Texas alle erforderliche Hilfe zu. Er lobte die Zusammenarbeit der diversen lokalen, regionalen und nationalen Behörden und betonte auf Twitter, der Staat sei auf die Katastrophe gut vorbereitet gewesen. Der Präsident will an diesem Dienstag nach Texas reisen, das eigentliche Katastrophengebiet aber meiden, um die Rettungsaktionen nicht zu stören. Am Montag rief er auch für den Bundesstaat Louisiana den Katastrophenfall aus.
Präsident Trump will am Dienstag in die Region reisen
Für den Präsidenten und seine Regierung ist „Harvey“ ein Test: 2005 wurde der Sturm „Katrina“, der 1500 Menschen tötete, wegen der schlecht koordinierten und langsamen Hilfe der Behörden für den damaligen Präsidenten George W. Bush auch zu einer politischen Katastrophe. Während "Katrina"-Opfer in New Orleans ums Überleben kämpften, blieb Bush damals ungerührt im Sommerurlaub. Kritisiert wurde auch, dass der Präsident lange mit einem Besuch im Sturmgebiet zögerte. Das ist einer der Gründe, warum Trump so schnell wie möglich nach Texas reisen will – auch wenn er nicht nach Houston selbst gelangen kann. (mit AFP)