Bitterkalte Nächte und Extremwetterlagen: Gibt es solche „Kälteschocks“ künftig häufiger?
Der Kaltluftblock über Deutschland bewegt sich kaum. Viele fürchten, dass das Wetterphänomen bald häufiger vorkommt. Welche Rolle die Klimakrise spielt.
Wieder eine bitterkalte Nacht, wieder Temperaturen bis zu minus 20 Grad. Ausgerechnet im Winter der Corona-Pandemie, die das gesellschaftliche Leben sowieso stark einschränkt, sinken die Temperaturen selbst am Tage vielerorts in den zweistelligen Minusbereich. Der Kaltluftblock bewegt sich kaum.
Während die Kälte anhält, fragen sich viele, ob uns selbst in unseren Breitengraden derartige „Kälteschocks“ öfter treffen könnten. Ob uns winterliche Extremwetterlagen, die chaotische Zustände verursachen, Straßen- und Schienenverkehr und ganze Hafenstädte lahmlegen, häufiger bevorstehen – und ob der Klimawandel dabei eine Rolle spielt.
Sind die Auswirkungen, die die globale Erwärmung in der Arktis längst hat, auch in Mitteleuropa zu spüren? Meteorologen und Klimawissenschaftler sind uneins, welche Rolle der Klimawandel an der aktuellen Kälteperiode hat – teils streiten sie in deutlichen Worten.
Ursächlich für die aktuelle Kältephase, so weit ist man sich wohl einig, sind auch Ereignisse in der Arktis, allen voran ein instabiler Polarwirbel. Dabei handelt es sich um ein riesiges Tiefdruckgebiet, das sich dort Jahr für Jahr bildet und über der Region in der Stratosphäre zirkuliert: gegen den Uhrzeigersinn und mit Einfluss auf das Wetter in der Atmosphärenschicht darunter.
Der Polarwirbel ist instabil
Der Polarwirbel schließt die arktische Kaltluft ein. Derzeit ist er allerdings ungewöhnlich instabil, was auf eine starke Erwärmung in der Polarregion im Januar zurückgeführt wird. Erstmals überhaupt brach der Polarwirbel im Januar zusammen. In der Folge wurde der für unser Wetter so wichtige Jetstream instabil: Das Starkwindband „schlingert“ und arktische Kaltluft gelangt so in den Süden. Selbst in Nordamerika und Europa kann es dann sehr kalt werden.
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Meteorologen beantworten die Frage nach dem Einfluss des Klimawandels rasch mit einem seltenen Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die nun einmal gleichzeitig auftreten können. Einem Tiefdruckgebiet über Gibraltar im Süden, das milde Luft heranführte, hohem Luftdruck vom Nordmeer bis ins östliche Mitteleuropa und eben dem „Polarwirbel-Split“.
Sie zogen den Vergleich zum Rekordwinter 1978/79, der allerdings weitaus härter ausfiel und mehr Chaos erzeugte. Vom Klimawandel war zunächst wenig zu hören, als im winterlichen Februar massiver Schneefall und Sturm vorhergesagt wurden.
Eisschmelze könnte Einfluss auf den Polarwirbel haben
Allerdings gibt es auch andere Stimmen. Stefan Rahmstorf, Wissenschaftler am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und dort Leiter der Abteilung Erdsystemanalyse, hatte gerade erst einen Zusammenhang zwischen der momentanen Wetterlage und dem Klimawandel hergestellt.
In einem online erschienenen Gastbeitrag für den „Spiegel“ verweist er auf Studien der Klimaforscherin Marlene Kretschmer, die die Wetterdaten seit 1979 auswertete. In einem Papier habe sie 2018 gezeigt, dass Wetterlagen mit schwachem Polarwirbel immer länger anhalten, „dagegen werden solche mit stabilem Polarwirbel direkt über dem Pol immer seltener“, schrieb Rahmstorf. „In einer zweiten Studie konnte sie zeigen, dass eine Ursache dieser Entwicklung der Eisschwund in der Arktis sein dürfte.“
Tatsächlich schwindet das arktische Meereis rasant. Im September schrumpfte es auf die zweitkleinste Fläche seit Beginn der Messungen vor rund 40 Jahren. Allein zwischen 1998 und 2018 haben im Nordpolarmeer die Flächen mit offenem Wasser um 27 Prozent zugenommen. Sonnenlicht, das bislang auf helle Schnee- und Eisflächen traf und reflektiert wurde, erreicht also zunehmend die wachsende dunkle Wasseroberfläche und erwärmt sie.
Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass sich der Arktische Ozean schneller erwärmt als andere Meeresregionen. Die Polarregion ist ohnehin deutlich schneller warm geworden als der Rest des Planeten. Der grönländische Eisschild verlor im Jahr 2019 gewaltige 532 Milliarden Tonnen an Eis.
„Es gibt manchmal einfach nur Wetter“
Nicht alle stimmen mit der Sicht Rahmstorfs überein. Der bekannte Meteorologe Jörg Kachelmann antwortet fast wütend auf dessen Gastbeitrag. Auf Twitter schreibt Kachelmann am Sonntag: „Man weiß nie, was schrecklicher und skrupelloser ist, alle die Rechtswürstchen, die eine winterliche Wetterlage als Argument gegen die Klimakrise sehen oder der verzweifelt unwissenschaftliche @rahmstorf, der eine gewöhnliche Winter-Wetterlage nun auch dem Klimawandel zuordnet.“ Dinge, „die weltweit niemand so sieht wie er“, schreibt Kachelmann weiter.
Der Streit und die recht deutlichen Worte haben eine Vorgeschichte. Sie scheinen eine weitere Episode jahrelanger Meinungsverschiedenheiten zu sein, um die Zunahme von Extremwetter-Situationen oder die Ursachen für Waldbrände im Sommer. Eine Fehde, die hin und wieder öffentlich ausgetragen wird.
In einem Interview im Deutschlandfunk äußert Kachelmann seine Sicht ausführlicher: Das, was gerade passiere, lediglich auf den Klimawandel zurückzuführen, sei zu kurz gegriffen. Es sei eben ein Winter, der nicht so häufig vorkomme. „Die natürlichen Schwankungen finden natürlich weiterhin statt“, sagt Kachelmann. „Es gibt manchmal einfach nur Wetter, es ist nicht alles gleich Klimawandel.“ Und: „Das ist jetzt Wetter.“
„Sogar Kälteausbrüche aus der Arktis stehen in Verbindung mit der Klimakrise“
Die kontroverse Diskussion über die Frage nach einem Zusammenhang der Wetterlage und dem Verlust des Eises in der Arktis wird auch unter Meteorologen geführt. Im Deutschlandfunk spricht der Meteorologe Özden Terli vom aktuellen Polarwirbel, der in diesem Jahr gar nicht erst stabil geworden sei. „In der Forschung sagt man, dass das durchaus mit dem Eisverlust in der Arktis zu tun hat“, so Terli.
„Wenn man sich anschaut, wie wenig Eis wir im vergangenen Oktober hatten – die Arktis ist ja erst einmal gar nicht zugefroren.“ Auf Twitter schrieb Terli zuletzt: „Sogar die Kälteausbrüche aus der Arktis stehen in Verbindung mit der Klimakrise“.
Auch Stefan Rahmstorf verdeutlicht seine Sicht noch einmal, ebenfalls auf Twitter, wo er auf zahlreiche Studien verweist, und außerdem in verschiedenen Medien. Kältewellen wie derzeit in Europa könnten im Zuge des Klimawandels häufiger werden – und die Winter dennoch wärmer. „Das kann man auch darauf zurückführen, dass der Polarwirbel instabil geworden ist“, sagte er der Deutschen Presse-Agentur. Wir rechnen schon damit, dass das Phänomen wahrscheinlich weiter zunehmen wird.“