Zum Tod von Hildegard Hamm-Brücher: "Frau Bundeskanzler, ich bewundere Sie"
Sie hielt ihre erste Schwangerschaft geheim und nahm Amphetamine im Chemielabor. Eigentlich wäre Hildegard Hamm-Brücher lieber in die SPD eingetreten. Lesen Sie hier ein Interview aus dem Jahr 2009.
Ein Mittag in München, 2009. Frau Hamm-Brücher - weißhaarig, mit freundlichem Blick - sitzt in ihrer Wohnung und serviert Kaffee. Im Interview ist sie schlagfertig und eloquent. Kaum zu glauben, dass diese jugendlich wirkende Frau schon mit Erich Kästner bei der "Neuen Zeitung" gearbeitet hat. Jetzt ist die große Liberale gestorben. Anlässlich ihres Todes veröffentlichen wir hier das Sonntag-Interview mit ihr erneut.
Frau Hamm-Brücher, das Grundgesetz wird 60 Jahre alt. Würden Sie es ändern, wenn Sie könnten?
Nein, aber ich würde in diesen Zeiten der wirtschaftlichen Krise den Artikel 14, Absatz 2 zum Wahlkampfthema machen: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Warum sind Sie eigentlich noch nicht Attac-Mitglied?
Ich bin 88!
Heiner Geißler ist mit 77 beigetreten.
Er war da noch verhältnismäßig jung. Aber wenn ich heute richtig jung wäre, so 25, würde ich nicht mehr einer Partei beitreten, sondern mich bürgerrechtlich engagieren – in einer Menschenrechtsorganisation wie Human Rights Watch zum Beispiel.
Sie haben sich nach dem Krieg für die FDP entschieden.
Weil mir der Titel „Freie Demokratische Partei“ gefiel und Theodor Heuss mich faszinierte. Er war es schließlich, der mir als junger Reporterin riet: „Mädle, gehet Se in die Politik.“ Der CSU fühlte ich mich nun wahrlich nicht zugehörig. Und ich gebe zu, mit der SPD habe ich sehr sympathisiert, denn sie war die einzige konsequente Anti-Nazi-Partei. Ach, jetzt werden Sie gleich komisch finden, was ich sage.
Nur zu!
Ich hatte ja meiner bürgerlichen Familie schon allein damit viel zugemutet, dass ich als Frau unbedingt in die Politik wollte. Wenn es dann noch die SPD mit ihren roten Arbeitern gewesen wäre, wäre ich auf völliges Unverständnis gestoßen.
Wird die SPD jetzt erleichtert oder enttäuscht sein, dass Sie sie verschmähten?
Wenn Sie darauf anspielen, dass ich nie ein gehorsamer Parteisoldat war, dann wohl erleichtert. Partei kommt von „pars“, Teil eines Ganzen. Sie werden nie die Partei finden, die Ihnen ganz und gar gefällt.
Für Ihren ersten Wahlkampf – es ging um Ihren Einzug in den Münchner Stadtrat 1946 – haben Sie selbst Kleister und Plakate hergestellt.
Das ist doch nicht schwer! Man kocht Knochen aus und kippt Lauge dazu. Wir haben mein Konterfei mit Wasserfarben auf alte Papiertüten gepinselt. Wir klebten nur drei Plakate an Schwabinger Ruinen: „Verjüngt den Stadtrat – wählt Hildegard Brücher!“ Es hat funktioniert, ich wurde gewählt.
Während der Nazi-Zeit waren Sie und Ihre Geschwister als „Mischlinge 1. Grades“ von den Nürnberger Gesetzen betroffen. Muss man die Unfreiheit erlebt haben, um die Freiheit richtig zu schätzen?
Das ist eine eminent wichtige Frage. Wer einmal die Erfahrung gemacht hat, dass Freiheit schrecklich missbraucht werden kann, der zittert, ob er überhaupt zurechtkommt mit ihr. Man muss begreifen, dass der Wunsch nach Freiheit die Triebfeder für ein anderes Leben ist, dann wird man sie auch schützen. Das Prinzip Verantwortung muss mit ihr zusammen erzogen und eingeübt werden.
Sie mussten für Ihre vier Geschwister schon früh Verantwortung übernehmen.
Mein Vater starb an einem verkorksten Blinddarm, als ich zehn war, meine Mutter genau elf Monate später. Wir kamen von Berlin nach Dresden zum Ömchen, der Mutter meiner Mutter. Wir hatten keine Ahnung, dass sie getaufte Jüdin war, das wurde uns erst 1935 eröffnet. Dass ich nicht mit in den Schwimmverein durfte, habe ich ertragen, aber nicht verstanden. Es prägt, wenn man so früh die Eltern verliert und man sich ständig ausgegrenzt fühlt. Wenn sich jemand in einen verliebt und man sagen muss: Wir dürfen nie zusammen sein, sonst kriegst du Ärger mit den Nazigesetzen.
Dann wurden Sie durch eine glückliche Fügung in Salem aufgenommen.
An dem Internat hatten wir eine herrliche Zeit, ein Stück Jugend. Doch nach einem Jahr mussten wir verschwinden. Mein Abitur habe ich trotzdem auf Umwegen gemacht, danach kam der Reichsarbeitsdienst. Und eines Morgens bei der Flaggenhissung sagten die Führerinnen: „Wer Chemie oder Medizin studieren will, soll vortreten.“
Sie interessierten sich aber doch für Geisteswissenschaften, für Geschichte und Literatur!
Ich weiß bis heute nicht, warum ich vortrat. Vielleicht ein Instinkt? Ich ging nach München, wo der Chef des Chemischen Instituts bewirkte, dass ich immatrikuliert wurde. Ein Wunder. Ich dachte, als Laborantin verdiene ich Geld und kann die Geschwister unterstützen.
"Ich hätte nie eine fanatische Feministin sein können"
Wie haben Sie es geschafft, zuerst Ihr Studium in Rekordzeit abzuschließen und dann auch noch – inmitten größter Kriegswirren – zu promovieren?
Ich habe mich mit der Chemie befreundet und Stufe für Stufe weitergemacht. Das Vorexamen habe ich mit Auszeichnung bestanden, dafür gab es ein Buch vom Geheimrat Wieland. Er war mein Schutzengel: Nach dem Examen hat er mich in sein Privatlabor geholt – ich war die zweite Frau, die er zur Promotion zugelassen hat.16 Stunden habe ich am Tag gearbeitet. Als es hart auf hart kam, habe ich auch Pervitin genommen …
… ein Methylamphetamin, das Hungergefühl, Müdigkeit und Schmerz unterdrückt und das auch viele Soldaten an der Front schluckten.
Ja. Außerdem Scho-Ka-Kola mit viel Koffein.
Das Privatlabor des Geheimrats war eine Rückzugsmöglichkeit für Sie?
Eine winzige Insel in diesem Meer aus Nazismus. Sie können sich das nicht vorstellen! Im Krieg konnte man keine Bücher kaufen, konnte nirgendwo hinfahren, man konnte nur arbeiten. Heinrich Wieland hielt die Hand schützend über mich, als andere Studenten aus dem Umfeld der Weißen Rose verhaftet wurden und mein Name auch fiel. Er behauptete einfach, unsere Arbeit sei kriegswichtig.
Hatten Sie Angst?
Nein. Ich war ja so stur, so fatalistisch! Es war ein Wettlauf: Schaffe ich es, bevor der Krieg zu Ende geht? Nur als meine Oma, das Ömchen, sich vor ihrer Deportation das Leben nahm, brach ich zusammen. Ein Priester redete mir im Sanatorium gut zu.
Was riet er?
„Sie haben schon so viel durchgehalten, versuchen Sie, das auch noch auszuhalten. Wenn der Krieg zu Ende ist, müssen Sie da sein, um im Geiste der Hingerichteten zu leben und zu arbeiten.“
Der Glaube an Gott hat Sie weitermachen lassen?
Ja, für mich war er immer ein wichtiger Bestandteil im Kampf gegen die Verzweiflung. Ich stürzte mich wieder in die Laborarbeit. Wir forschten ja über Hefe, die ein wichtiger Grundstock war, um Vitamine zu gewinnen. Ich musste zentnerweise Hefe-Rückstände destillieren, um einen Stoff zu finden, den der Geheimrat Kryptosterin nannte. In vier Monaten destillierte ich ein halbes Gramm. Tagsüber arbeitete ich damit, oxydierte und dehydrierte, nachts trug ich das Kryptosterin in einem unzerbrechlichen Fläschchen um den Hals. Mitten in meiner Promotionsprüfung war Fliegeralarm, aber als die Amerikaner kamen, hatte ich meinen Doktortitel in Chemie.
Sie haben einmal gesagt: „Nach dem Krieg keimte alles, was mir wichtig wurde.“
Das Gefühl der Freiheit war überwältigend. Plötzlich gab es wieder eine Zukunft! Man konnte öffentlich Kritik üben und jeden Tag neu überlegen, wie die Dinge zu bewerten sind. Das Glücksgefühl war so extrem, dass wir das Elend, in dem wir lebten, gar nicht als solches empfanden. Es war wie ein Sturz aus allen Ängsten, allen Zwängen.
Die Atmosphäre bei der Münchner „Neuen Zeitung“, wo Sie bald als Wissenschaftsjournalistin landeten, beschrieben Sie als „herrlich“.
Das war sie auch! Die Amerikaner brauchten deutsche Mitarbeiter mit weißer Weste. Die Redaktion war an der Schillingstraße, wo kurz zuvor noch der „Völkische Beobachter“ gemacht worden war. Die Amerikaner holten Druckmaschinen aus Übersee, in einer großen Halle standen ein paar Schreibtische. Nur Erich Kästner, der Kultur-Chef, hatte ein eigenes Büro.
Erich Kästner …
… war ein liebenswürdiger und lustiger Mensch! Er nannte mich „Hildegärtchen“ oder „Hildegardinchen“. Es waren lauter große Namen dabei: Egon Bahr war Korrespondent in Berlin, Peter Boenisch schrieb sich als jugendlicher Reporter die Finger wund, und dann gab es noch einen begabten Sportmann namens Robert Lembke.
Sowohl bei der „Neuen Zeitung“ als auch in den Anfangszeiten Ihrer politischen Karriere waren Sie fast ausschließlich von Männern umgeben. Wie oft haben Sie gedacht: diese Holzköpfe!
Sehr, sehr oft! Die Männer haben sich ja in den 50er Jahren noch haushoch, was sage ich, turmhoch überlegen gefühlt. Sie dachten, Frauen seien nur für den Sex da und dass sie den Haushalt in Ordnung halten. Die Männer haben damals zwar Handküsse gegeben und Türen aufgehalten, aber sie achteten die Gleichwertigkeit der Frau nicht.
Sie haben nie Frauenpolitik gemacht.
Weil alle Politik Frauenpolitik ist. Ich hätte nie eine fanatische Feministin sein können, für solche Kinkerlitzchen hatte ich keine Zeit. Mit Alice Schwarzer hatte ich mir auch nie viel zu sagen. Diese Jahre, in der die Frauen einfach nur rummotzten und bloß ihre eigenen Belange einbrachten, fand ich zu einseitig. Mein Engagement, glaube ich, war für die Mehrheit der Frauen wichtiger als das von Frau Schwarzer.
"Es wurde viel hinter meinem Rücken gelästert"
Frau Hamm-Brücher, Sie erwarteten 1953 ein Kind von dem CSU-Politiker Erwin Hamm, der damals noch mit einer anderen verheiratet war.
Ich habe die Schwangerschaft als Wink des Schicksals verstanden und wollte unbedingt wissen, ob ich das auch noch schaffe – mein späterer Mann steckte bereits mitten im Scheidungsprozess, doch seine Gesuche wurden immer wieder abgewiesen. Also hat mich mein älterer Bruder, der in Holland lebte, während der letzten Schwangerschaftswochen bei sich aufgenommen. Es hat niemand gewusst. Und der Florian, mein Sohn, hat sein erstes Lebensjahr bei meiner Schwester verbracht, bis wir heiraten konnten.
Was, wenn Sie aufgeflogen wären?
Ich hätte halt mit der Politik aufgehört, aber für meinen Mann, den Katholiken und CSU-Mann, wäre es die Hölle gewesen.
Ihre Karriere verlief rasant: Vom Bayerischen Landtag gingen Sie als Staatssekretärin ins hessische Kultusministerium, bevor Sie ins Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft wechselten und schließlich Staatsministerin unter Genscher im Auswärtigen Amt wurden.
Ohne meinen Mann hätte ich das alles nicht geschafft – und nicht ohne die Nitti, unser Allround-Kindermädchen. Natürlich habe ich zugunsten der Karriere auf vieles verzichtet, es aber nicht als Verzicht empfunden. Wenn Herr Genscher auf die Idee kam, ich sollte statt seiner auf eine Konferenz in Südostasien, musste das Familienleben am Telefon stattfinden. Es wurde viel hinter meinem Rücken gelästert. Einmal war meine Tochter Verena auf einem Kindergeburtstag, eine Mutter nahm sie auf den Arm: „Du armes Kind, so ganz allein, wer erzieht dich bloß!“ Unsere Verena antwortete: „Bei uns zu Hause wird nicht erzogen.“
Der schlimmste Moment Ihrer Laufbahn?
Das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt im Herbst 1982. Einen so tüchtigen und erfolgreichen Kanzler abzuwählen, ich konnte es nicht fassen. Er hatte kurz zuvor noch eine Koalitionsaussage für vier Jahre Schmidt-Genscher gemacht, deswegen stellte es sich für mich wie einen Betrug am Wähler dar – bloß, weil man Kohl wollte. Nach meiner Rede …
… in der Sie Ihre Parteifreunde beschworen, Kohl nicht zum Kanzler zu machen …
… geriet ich in eine Art liberalen Strafvollzug. Ich hatte die Fraktion brüskiert, viele Jahre saß ich in keinem Ausschuss, durfte nicht reden.
Viele Ihrer damaligen Kollegen wechselten in die SPD. Warum nicht Sie?
Ich wollte bleiben und der Partei ein ungemütliches Leben machen. Es wurde dann auch ein ganz und gar unerfreuliches Verhältnis.
Haben Sie Verständnis für Dagmar Metzger, die sich 2008 aus Gewissensgründen gegen die Wahl Andrea Ypsilantis zur hessischen Ministerpräsidentin aussprach?
Ja. Die Freiheit, in wichtigen Fragen von der Parteilinie abzuweichen, muss gegeben sein. Der Abgeordnete ist nur seinem Gewissen verpflichtet. Ich habe große Sympathien für Frau Metzger.
Ausgerechnet Guido Westerwelle hat Sie nach Ihrem „liberalen Strafvollzug“ auf dem Bundesparteitag 1996 wieder für das Präsidium vorgeschlagen.
Das war natürlich toll. Trotzdem habe ich später vergeblich versucht, ihn darauf aufmerksam zu machen, was er da an seinem Busen nährt.
Sie meinen Jürgen Möllemann?
Ja, Möllemanns antiisraelisches Weltbild, aber auch das einfach nur blöde Projekt 18. 54 Jahre lang hatte ich mit der FDP gelebt, aber nun war das Fass übergelaufen. Westerwelle hat bei aller Begabung nicht gewusst, wo die Grenzen sind. Am Wahlsonntag 2003 habe ich um 12 Uhr meine Austrittserklärung in den Briefkasten geworfen.
Haben Sie Ihren Austritt schon mal bereut?
Nicht eine Sekunde.
Noch kurz zu zwei 90. Geburtstagen: Helmut Schmidt hat ihn im vergangenen Dezember gefeiert. Was sagen die wochenlangen Schmidt-Festspiele über die Gegenwart?
Er war ein Vertrauen erweckender und konsequenter Politiker, der ein Gespür für Verantwortlichkeit und Anstand hatte. Wahrscheinlich fördert es die Verdrossenheit, dass die Politiker heute Teil eines riesigen, teuren Apparates sind – mit Internetseiten und allem drum und dran.
Auf einem Foto, das Sie neben Angela Merkel auf der Feier zu 90 Jahren Frauenwahlrecht zeigt, flüstern Sie der Kanzlerin etwas ins Ohr. Worum ging es?
Angela Merkel kam blass und schlecht gelaunt zu der Versammlung. Ich sagte in etwa: „Frau Bundeskanzler, ich bewundere Sie! Ich habe in der sozialliberalen Regierung sechs Jahre erlebt, was ein Bundeskanzler leisten muss. Ich selbst hätte Bundespräsident werden können, aber Bundeskanzler hätte ich mir nie zugetraut. Alle haben gedacht, dass Sie das nicht packen. Aber Sie machen es bravourös.“ Da blühte sie auf, wurde lustig und hielt eine prima Rede.
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