Dauerhaft Sommerzeit: "Es wird mehr schlechte Laune und Unfälle geben"
Ingo Fietze ist Schlafmediziner an der Charité. Er warnt davor, dauerhaft mit Sommerzeit zu leben. Ein Interview.
Herr Fietze, in einer Umfrage der EU hat sich eine Mehrheit entschieden, sie will „Sommerzeit für immer!“. Was sagt der Mediziner dazu?
Das ist eine fatale Entwicklung. Hätte ich gewusst, dass es jetzt in die falsche Richtung geht, dann hätte ich mir die ganze Diskussion nicht gewünscht.
Warum ist das die falsche Richtung?
Alle Lebewesen auf dieser Erde leben in der „normalen“, von der Natur vorgegebenen Zeit - und das ist die Winterzeit. In dieser Zeit sind wir durch die Evolution die Menschen geworden, die wir heute sind. Künstliche Zeitsprünge oder auch permanente Zeitverschiebungen machen überhaupt keinen Sinn.
Ist das denn eine „Sinnfrage“ oder gibt es auch medizinische Effekte, die sich nachweisen lassen?
Wissenschaftlich hat noch niemand nachgewiesen, dass die wechselnde oder dauerhafte Umstellung auf Sommerzeit gesundheitliche Folgen hat. Da müsste man große Langzeitstudien machen, die viel Geld kosten. Das macht keiner. Es gibt aber die so genannten Jetlag-Untersuchungen. Da geht es inzwischen nicht nur um die Vielflieger, sondern auch um den sozialen Jetlag wie mein Münchner Kollege Till Roenneberg das nennt. Beispielsweise bei Schichtarbeit. Es werden also Menschen untersucht, die ihren Biorhythmus wechseln und so unter Stress setzen. Da weiß man heute sicher: das ist ungesund.
Was bedeutet das konkret?
Die Schlafqualität leidet, das Herz-Kreislauf-System auch. Bluthochdruck und Stoffwechselstörungen können die Folge sein. Es gibt ein erhöhtes Risiko für Diabetes und Krebs. Hauptsächlich aber leidet das Immunsystem, weil es sich nur im Schlaf regeneriert. Wenn das Immunsystem jeden Tag oder dauerhaft gestresst wird, dann ist die Abwehr von Viren, Parasiten oder – wie gesagt - von Krebs gefährdet.
Beim Jetlag hat jeder das Gefühl, das geht rasch vorüber. Man gewöhnt sich einfach an den neuen Zeitrhythmus.
Man gewöhnt sich daran, wenn man in andere Regionen fliegt. Dann geht eben die Sonne früher oder später auf oder unter. Der Rhythmus ist anders, bleibt aber natürlich. Also man gewöhnt sich an die dortigen Licht-Dunkel-Verhältnisse. Wenn wir aber an Winter- und Sommerzeit herum manipulieren oder die Sommerzeit ganz einführen, dann müssten wir uns an Licht-Dunkel-Verhältnisse gewöhnen, die nicht den natürlichen entsprechen, sondern zeitlich verschoben sind.
Was folgt daraus?
Um damit zu beginnen: Es war fatal, dass die Umfrage im Sommer gemacht wurde. Da sind doch alle geflasht: abends lange Sonne, Grillen, Biergarten. Ich werde nicht müde zu sagen, dass wir alle zu wenig schlafen. Dazu trägt die Sommerzeit bei. Alle bleiben länger wach, aber alle müssen trotzdem früh raus. Wir verkürzen die Schlafzeit, die bei den meisten ohnehin schon zu kurz ist, noch einmal. Und im Winter ist es früh eine Stunde länger dunkel. Wir kommen morgens nicht in die Gänge. Licht ist der intensivste Weckreiz. Es bringt unsere Organe in Schwung. Wenn wir die Sommerzeit permanent einführen, dann gehen die Kinder im Frühling und Herbst noch länger im Dunkeln zur Schule. In den ersten Unterrichtsstunden leidet ihre Konzentrationsfähigkeit. Kinder brauchen ohnehin länger Schlaf. Dass sie abends eher ins Bett gehen, können Sie doch vergessen. Wir Erwachsenen gehen länger im Dunkeln zur Arbeit. Es wird absehbar mehr schlechte Laune und mehr Unfälle geben, da bin ich sicher. Von Depressionen ganz abgesehen. Winterdepressionen gibt es ja auch im Frühjahr und im Herbst.
Jetzt frag ich mich gerade, ob nicht ganze Berufsgruppen einen stark gesundheitsschädlichen Rhythmus haben. Einige fangen um 7:00 Uhr an, andere erst um 9:00 Uhr. Wer lebt jetzt gesünder?
schreibt NutzerIn eric_summerfield
Aber wir reden doch nur über eine Stunde Unterschied.
Es ist richtig, wenn ich nach London fliege, dann gewöhne ich mich innerhalb von 24 Stunden an die neue Zeit. Aber bei einer generellen Umstellung hat das ganz andere Auswirkungen, weil wir monatelang an unserem Schlaf sparen. Die Stunde liegt ja nicht nur an einem einzigen Tag neben der natürlichen Zeit - sondern jeden Tag. Schon der Klimawandel verkürzt unseren Schlaf, weil es viel zu heiß ist in der Nacht. Die Lichtveränderung käme da noch oben drauf. Wir müssen uns doch nicht noch mehr Stress machen.
Schlafbedürfnisse sind recht individuell: Mancher braucht wenig, es gibt Frühaufsteher und Nachteulen. Sind generelle Schlussfolgerungen da nicht ziemlich gewagt?
80 Prozent der Menschen sind „Normalos“ und die sollten zwischen 22 Uhr und 6 Uhr schlafen. In diesem Zeitfenster. Idealerweise sieben Stunden, aber mindestens sechs Stunden. „Eulen“ und „Lerchen“ haben wieder einen anderen Rhythmus. Wir brauchen viel mehr flexible Arbeitszeiten, damit die Menschen die Arbeit ihrem Biorhythmus anpassen können. Aber das ist schon wieder ein anderes Thema.
Was schlagen sie vor?
Es gibt aus meiner Sicht eine Alternative: Entweder wir bleiben beim Wechsel von Winter- und Sommerzeit. Oder wir gehen auf die natürliche Zeit, die Winterzeit, zurück. Mir ist beides Recht, wenn nur nicht die Entscheidung für die dauerhafte Sommerzeit fällt.
Prof. Ingo Fietze ist Leiter des Schlafmedizinischen Zentrums der Berliner Charité, Vorsitzender der Deutschen Stiftung Schlaf und Autor des Buches „Die übermüdete Gesellschaft“.
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