zum Hauptinhalt
Jürg Jegge stellt 1977 sein Buch "Dummheit ist lernbar" vor, in dem er sich kritisch mit dem schweizerischen Schulsystem auseinandersetzt.
© picture alliance/KEYSTONE

Missbrauchsvorwürfe gegen Schweizer Pädagogen Jürg Jegge: "Es war ein Beitrag zur Selbstbefreiung"

Berühmt geworden ist Jürg Jegge mit seinem schulkritischen Bestseller "Dummheit ist lernbar": Jetzt wirft ein ehemaliger Schüler dem Pädagogen vor, ein Pädokrimineller zu sein

Die Schweiz wird von einem Pädophilie-Skandal erschüttert. Jürg Jegge, einer der bekanntesten Pädagogen des Landes, soll jahrzehntelang Jungen missbraucht haben. In einem Buch, das in der vergangenen Woche herausgekommen ist, erhebt der ehemalige Schüler Markus Zangger schwere Vorwürfe. Demnach begannen die Übergriffe, als er zwölf Jahre alt war. Bei gemeinsamen Autofahrten habe der Lehrer ihm zwischen die Beine gefasst, ihn in seine Wohnung eingeladen, ihm dort immer wieder als angeblich „therapeutische Maßnahme“ an den Penis gefasst. Auch bei Urlaubsreisen sei es zu Vorfällen kommen. Zangger, mittlerweile 58 Jahre alt, war 1970 als Fünftklässler in die private Sonderschule gekommen, die Jegge auf einem abgelegenen Bauernhof bei Zürich betrieb. Die pädokriminelle Täter-Opfer-Beziehung ging nach den Schilderungen des Jüngeren auch weiter, als er die Schule verlassen hatte. Erst mit 28 Jahren gelang es Zangger, sich von Jegge zu lösen. Heute sagt er laut der Berner Zeitung „Der Bund“: „Ich will, dass er vor der ganzen Welt hinsteht und alles zugibt.“

Nur Kontakt, ein Missbrauch

Genau das hat Jürg Jegge jetzt getan. Jedenfalls beinahe. „Ja, ich hatte sexuellen Kontakt mit meinem Schüler“, sagt der Pädagoge in einem Interview, das die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) am Wochenende veröffentlichte. Allerdings weist er die Anschuldigung des sexuellen Missbrauchs zurück, die Zangger in seinem Buch über „Jürg Jegges dunkle Seite“ formuliert hat. Er spricht lieber von „sexuellen Kontakten“, behauptet, sich nicht mehr genau erinnern zu können, weil alles schon so weit zurückliege, und bemüht das, was andere pädokriminelle Täter als „pädagogischen Eros“ bezeichnet haben: „Ich war damals der Überzeugung, dass eine derartige Sexualität einen Beitrag leiste zur Selbstbefreiung und zur persönlichen Weiterentwicklung der Schüler.“ Also müssten die Opfer – ein 51-jähriger Mann äußert inzwischen ähnliche Anschuldigungen – ihm eigentlich dankbar sein. Jürg Jegge, 73, gehört zur kleinen Spezies der Starpädagogen. 1976 veröffentlichte er sein programmatisches Buch „Dummheit ist lernbar“, das bis heute immer wieder aufgelegt wurde und sich 200.000 Mal verkaufte. Darin verarbeitete Jegge seine „Erfahrungen mit ,Schulversagern’“ in der eigenen Sonderschule und kritisierte ein Schulsystem, das schwächere Kinder regelrecht in „Dummheit“, Vereinsamung und Lebensängste bis hin zum Suizid treibe. Selbst in einem Entschuldigungsbrief, den Jegge an Zangger schrieb, beharrt der Lehrer darauf, dass es ihm um eine „Befreiung der Seelen und der Köpfe“ gegangen sei. Jegge ist ein Mann mit Mission. Er gründete die Stiftung Märtplatz als beruflichen Eingliederungsort für junge Menschen mit „Startschwierigkeiten“, brachte weitere kritisch-konstruktive Bücher wie „Angst macht krumm“ heraus und trat auch als Fernsehmoderator und Liedermacher auf. Zuletzt klagte er, dass der Neoliberalismus den Menschen zu „einer Art Maschine“ degradiert habe, „die man stetig verbessern muss, damit genügend Gewinn erzielt werden kann“. Tatsache sei jedoch: „Der Mensch ist nur beschränkt optimierbar.“

Opfer angebliche Verführer

Der Fall Jegge erinnert an große deutsche Pädophilie-Skandale wie am Canisius-Kolleg, dem privaten katholischen Gymnasium in Berlin, oder bei den Grünen, die einst über die Legalisierung von pädophilem Sex diskutiert hatten. Am meisten gleicht die Affäre aber den Enthüllungen über die inzwischen aufgelöste Odenwaldschule. Jürg Jegge ist der vielleicht prominenteste Reformpädagoge der Schweiz, die Odenwaldschule war mehr als hundert Jahre lang das Vorzeigeprojekt der deutschen Reformpädagogik. Dort hatte Schulleiter Gerold Becker unbehelligt ihm anvertraute Kinder und Jugendliche missbraucht. Sein Lebensgefährte Hartmut von Hentig, selbst ein bekanntenr Pädagoge, vermutete, Becker habe sich wahrscheinlich von seinen Opfern verführen lassen.
Die Rechtfertigung folgt einem bekannten Muster, das Motto lautet: Die Kinder und Jugendlichen wollten es doch auch. So wird der Pädokriminelle im Nachhinein nicht von schlechtem Gewissen geplagt. Jürg Jegge sagt: „Mit enormem Einsatz habe ich versucht, möglichst viele Anregungen zu schaffen, da ging es beileibe nicht nur um Sex. Und wenn es dazu kam, habe ich das, so paradox es heute klingen mag, unter Stärkung und Selbstbefreiung für meine Schüler abgebucht.“

Dokument der Selbstverblendung

Das Gespräch in der „NZZ“ ist ein erstaunliches, erschütterndes Dokument der Selbstverblendung und Uneinsichtigkeit. Ob er nie gespürt habe, dass den Jugendlichen die sexuellen Handlungen nicht gefielen? „Nein, dieses Gefühl hatte ich nicht. Aus meiner Sicht habe ich nie jemanden zu etwas gezwungen. Im Gegenteil: Die Schüler haben einige Male gesagt, dass ihnen das gefalle und dass sie es gut fänden.“ Heute, versichert der Pädagoge, würde er anders handeln. Weil das Thema „wahnsinnig tabuisiert“ sei. Darin schwingt die Kritik gleich mit: Tabus sind gesellschaftliche Fesseln, sie gehören eigentlich gebrochen. Eines weiß Jürg Jegge aber genau: Juristisch sind seine Taten verjährt.

Zur Startseite