Kindesmissbrauch: Schule des Misstrauens
Die Krise der früheren Vorzeige-Einrichtung im Odenwald verschärft sich, das Landratsamt in Heppenheim fühlt sich weiterhin schlecht informiert.
Die Wände sind in weichen, warmen Farben gestrichen, im Foyer hängt das Bild „1001 Nacht“ von Henri Matisse. Die Behandlungsräume heißen „Kandinsky“ oder „Paul Klee“, ausgestattet selbstverständlich mit Werken des entsprechenden Künstlers. Psychologie natürlich: Wer schon zum Zahnarzt muss, soll wenigstens in eine heimelige Atmosphäre eintauchen. Am Donnerstag stand Philipp Sturz an seinem Behandlungsstuhl, schliff Zähne, setzte Kronen und konzentrierte sich auf eine Wurzelbehandlung.
In seinem Alltag ist er inzwischen ganz weit weg von der Odenwaldschule (OSO) in Ober-Hambach. Obwohl er dort als Schüler neun prägende Jahre erlebte, obwohl er im Trägerverein der Schule saß, obwohl er monatelang Sprecher des Vorstands des Trägervereins war, obwohl er engagiert im Opferverein „Glasbrechen“ mitgewirkt hatte, auch wenn er selber kein Missbrauchsopfer war.
"Diese Schule hat keine Zukunft"
Die Odenwaldschule? Da sagt Sturz gelassen: „Das Sinnvollste wäre es, wenn ein Investor das Gelände kauft, den Speisesaal zu einem Museum für die Opfer des Missbrauchs umwandelt und den Rest verrotten lässt.“ Er kann’s auch kürzer: „Diese Schule hat keine Zukunft.“
Die Zweifel jedenfalls, dass sie eine hat, wachsen immer stärker. Am Donnerstag kurz vor 12 Uhr, kurz vor Fristende, traf beim Landratsamt in Heppenheim eine E-Mail der OSO-Schulleitung ein. Die schildert, was sie über jenen Kinderarzt wusste, der Schüler in unangemessener und übertriebener Weise abgetastet haben soll. Aber, typisch mittlerweile für die OSO, die Informationen sind unzureichend. „Während die Internatsleitung in ihrer Meldung der letzten Woche von Vorgängen von vor zwei Jahren spricht, verlagern die übersandten Unterlagen den in Rede stehenden Vorgang auf einen Zeitraum von mehr als drei Jahren“, teilt das Landratsamt mit. Und noch ein Widerspruch: Anders als in der ersten OSO-Mitteilung zum Fall berichtet, soll nach Schülerbeschwerden als Sofortmaßnahme beschlossen worden sein, dass eine Krankenschwester bei Untersuchungen anwesend sein müsse. Kurz gesagt: Es gebe weiteren „Aufklärungsbedarf“. Aber nur für das Landratsamt, nicht für die Staatsanwaltschaft. Die leitet kein Ermittlungsverfahren gegen den Arzt ein.
Das Ministerium überprüft das Konzept des Internats
Wundert sich noch jemand, dass die OSO sehr misstrauisch beäugt wird? Zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen muss die Schule Informationen nachliefern, weil sie ihre Aufsichtsbehörden unzureichend oder gar nicht informiert hat. „Das Sozialministerium wird nun die Tragfähigkeit des pädagogischen Konzepts des Internats prüfen“, sagte Esther Walter, Sprecherin des Ministeriums. Experten prüfen, ob das Internat überhaupt die Bedingungen für eine Betriebserlaubnis erfüllt. Und das kann dauern.
Das bedeutet noch lange nicht, dass das Internat geschlossen wird. Es bedeutet auch noch lange nicht, dass die Schule geschlossen wird. Aber es setzt die Schulleitung noch mehr unter Druck, ihre Strukturen zu ändern. Die enge Verbindung von Schülern und Lehrern, die oft zugleich ihre Betreuer im Privatleben waren, hatte zu dem offiziell 132-maligen Missbrauch von Schülern durch Lehrer an der renommierten Reformschule geführt.
Unter diesem Druck hat die Schulleitung jetzt Reformen angekündigt. Zurzeit betreuen je zwei Lehrer eine Gruppe, die als „Familie“ bezeichnet wird. Zwei Lehrer, das ist schon mal ein Fortschritt. Das Vieraugenprinzip. Es soll verhindern, dass ein Lehrer allein mit einem Schüler ist. „Wir brauchen eine Trennung von Lehrer und Erzieher sowie ein Aufgeben des Familienbegriffs“, sagt Internatsleiterin Juliana Volkmar.
"Glasbrechen" reichen die Reformen nicht
Endlich, sagt dazu eine Frau aus dem Führungskreis von „Glasbrechen“, „endlich ist der Druck so hoch, dass etwas passiert“. Denn aus ihrer Sicht, aus Sicht des Opfervereins, ist viel zu wenig passiert. Das Vieraugenprinzip? Lächerlich. „Das kann nicht funktionieren. Denn zwei der vier Augen gehören zu jemandem, der oft gerade frei hat.“ Es sei doch logisch, dass sich zwei Leute „nicht 24 Stunden am Tag überwachen“. Und dann besteht eines dieser Duos, in denen man sich gegenseitig überwachen soll, auch noch aus einem Ehepaar. Die „Glasbrechen“-Funktionärin lacht verbittert. „Es gibt unverändert die Möglichkeit, dass man mit einem Kind allein ist.“
Und noch immer ist es möglich, dass ein Lehrer zugleich der private Betreuer eines Schülers ist, dass also ein Abhängigkeitsverhältnis mit jenen Folgen entstehen kann, unter dem so viele Schüler leiden mussten. „Glasbrechen“ fordert eine klare Trennung zwischen Lehrer und Betreuer. Niemals soll ein Kind seinen Betreuer auch als seinen Lehrer erleben.
Vor allem, sagt die „Glasbrechen“-Funktionärin, selber Missbrauchsopfer, „sind noch heute Leute dort, die nicht unbelastet sind“. Unbelastet zumindest aus moralischer Sicht. „Konkret geht’s um zwei Personen, die aber wegen Verjährung nicht belangt werden könnten.“ Es gebe interne Aussagen von Opfern über diese Personen. Doch diese Zeugen hätten nie bei der Polizei ausgesagt, „weil sie sich damit wahnsinnig schwertun“.
Das Misstrauen im Trägerverein ist groß
Nächste Baustelle aus ihrer Sicht: der Trägerverein, Inhaber der OSO. „Dort sitzen auch Leute, denen es vor allem um den Schutz der Schule geht, die sich die tollen Erinnerungen, die sie haben, nicht kaputt machen lassen wollen.“ Zweifellos hat diese Schule ihren Mythos und deshalb viele Anhänger.
Philipp Sturz hat den Trägerverein 2010 verlassen, im Zorn, aus Frust, „weil ich dort keinen Willen zu grundlegenden Reformen gesehen habe“. Und das war noch in der Zeit, als die Empörung über die Missbrauchsfälle und die frühere Ignoranz der Vereinsfunktionäre beim Umgang mit Hinweisen auf diesen Missbrauch durchs ganze Land schwappte. Der Zahnarzt aus Augsburg hatte damals verlangt, alle Vorstandsmitglieder müssten nicht bloß zurücktreten, sondern auch aus dem Verein ausscheiden. Sonst könnten sie ja einen ihm genehmen Vorstand wählen. Viele betroffene Funktionäre weigerten sich. „Möglicherweise sind Personen, die nicht gehen wollten, immer noch im Verein präsent“, sagt Sturz. Auch deshalb ist er ja überzeugt von seiner These. „Die Schule kommt aus dem Sumpf nicht mehr heraus.“
Er hat noch einen weiteren Grund gefunden, warum er für das Ende der Schule ist: „Je mehr über die OSO berichtet wird, umso größer die Gefahr der Retraumatisierung der Opfer.“
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