Türkei: Erleichterung für Kinderehen
Laut einem Urteil des türkischen Verfassungsgerichts gilt nicht jeder Geschlechtsverkehr mit unter 15-Jährigen als Missbrauch. Etwa jede vierte Ehe in der Türkei ist eine Kinderehe.
Gute Werbung für das Land war es nicht: „Türkei erlaubt Sex mit Kindern unter 15 Jahren“ stand etwa auf dem digitalen Nachrichtenband in der Ankunftshalle des Wiener Flughafens Schwechat. Das Außenministerium in Ankara bestellte deshalb am Wochenende den Geschäftsträger der österreichischen Botschaft ein.
Am Montag wurde auch Schwedens Außenministerin Margot Wallström gerügt, weil sie auf Twitter ein türkischen Kindersex-Urteil kritisierte. „Sie sind ganz klar falsch informiert. In der Türkei gibt es keine solche Dummheit“, twitterte Vizeregierungschef Mehmet Simsek zurück.
Gibt es aber doch. Das Gerichtsurteil des Verfassungsgerichts fiel am 13. Juli und ging dann im Strudel der Ereignisse und Nachrichten um den gescheiterten Militärputsch unter. Jetzt aber gruben Nachrichtenportale in Europa die Entscheidung zum Kindesmissbrauch aus, darunter das österreichische Boulevardblatt „Kronenzeitung“, das auch die Nachrichten am Wiener Flughafen textet.
Nicht mehr jeder Geschlechtsverkehr mit unter 15-Jährigen strafbar
Die Entscheidung war knapp mit sieben gegen sechs Stimmen gefallen: Die Definition von Kindesmissbrauch im Artikel 103 des türkischen Strafgesetzbuches sei zu eng, befanden die Richter und kippten den Abschnitt. Nicht jeder Geschlechtsverkehr mit einem Kind unter 15 Jahren müsse als sexueller Missbrauch gelten.
Die Entscheidung wird erst im Januar nächsten Jahres rechtskräftig. Doch Täter, meinen türkische Bürgerrechtler und Wissenschaftler, würden sich schon straffrei fühlen. Ein Strafgericht in Bafra, einer Stadt in der überwiegend erzkonservativen türkischen Schwarzmeerregion, hatte die Verfassungsrichter angerufen und die Bestimmungen des Artikels 103 moniert. Acht bis 15 Jahre Gefängnis legt das Gesetz für sexuelle Handlungen an Minderjährigen fest. Doch man könne den Fall von 14-Jährigen nicht mit einem von Vierjährigen gleichsetzen, argumentierte das Provinzgericht.
Hintergrund sind Kinderehen
Das Gesetz lasse keinen Raum für solche Unterschiede und für den Fall zu, dass Minderjährige dem Geschlechtsverkehr zustimmen. Zwölf- bis 15-Jährige seien im Prinzip in der Lage, die Bedeutung einer sexuellen Handlung zu verstehen. So hat es dann auch die Mehrheit im Verfassungsgericht gesehen.
Zivilgesellschaftliche Gruppen hatten die Entscheidung scharf kritisiert. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu sagte, die türkische Regierung sei entschlossen, Kindesmissbrauch zu bekämpfen, und erklärte, das Justizministerium arbeite derzeit an einem neuen Gesetz.
Hintergrund des Rechtsstreits sind die Kinderehen in der Türkei. Die sind zwar verboten, doch das Zivilgesetz lässt noch Ausnahmen zu: Artikel 124 macht die Verheiratung von Jugendlichen und Kindern unter 16 Jahren in „außerordentlichen Fällen“ auf Richterbeschluss möglich. In der Praxis erledigt das der Imam im Dorf auf dem Land, ohne dass ein Gericht eingeschaltet wird.
Jede vierte Ehe in der Türkei ist eine Kinderehe, so wird geschätzt. Mit dem Wegfall des Paragrafen zum Kindesmissbrauch müsste ein Ehemann zumindest wegen Missbrauchs keine strafrechtliche Verfolgung befürchten. Die lange Regierungszeit der konservativ-islamischen Partei AKP scheint die Kinderheirats-Mentalität gestärkt zu haben. Auch Abdullah Gül, Tayyip Erdogans Parteifreund und Amtsvorgänger als Präsident, hatte seine Frau Hayrünnisa geheiratet, als sie 15 war.