Nach dem Putschversuch in der Türkei: Erdogans Bilanz: 81.000 suspendiert, 35.000 festgenommen
Nach dem Putschversuch hat Erdogan einen Monat lang "gesäubert" – und spürt großen Rückhalt. Jetzt hofft er, dass die USA seinen Erzfeind ausliefern: den Prediger Gülen.
Sicher ist sicher. Mehmet Simsek, der türkische Staatsminister für die Wirtschaft, hat alle Gerüchte für Unfug erklärt, doch die Armeeführung annullierte am Sonntag lieber sämtliche Urlaubsanträge. Einen Monat nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli geht in der Türkei die Furcht vor einem zweiten Putschversuch um. Oder vor Sabotageakten, einem letzten Aufbäumen der Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den Ankara für den Coup verantwortlich macht. Falls es eine Wiederholung des 15. Juli gibt, sollen genug Soldaten bereitstehen.
Denn weitere Gegner im Land hat sich Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan seit dem Putsch zweifellos geschaffen. Zehntausende Bürger sind bisher von ihren Arbeitsplätzen entfernt oder gleich ins Gefängnis geworfen worden. Es ist die größte Säuberungswelle seit Bestehen der türkischen Republik.
Neue Zahlen gab Ministerpräsident Binali Yildirim am Wochenende bekannt: 81.000 Staatsbedienstete wurden wegen angeblicher Verbindungen zum Gülen-Netzwerk suspendiert oder entlassen. Mindestens 3000 Armeeangehörige sollen darunter sein. Die große Mehrheit aber sind Beamte im Justiz- und Polizeiapparat sowie an den Universitäten. 35.000 Menschen wurden bisher festgenommen, sagte Yildirim, die Hälfte von ihnen soll in Untersuchungshaft sein. Aber die Grenzen zwischen Haft und Festnahme sind fließend. 30 Tage in Polizeigewahrsam ohne Anwalt und Richter sind möglich – es gilt der Ausnahmezustand. Augenzeugenberichte über Folter, die Amnesty International sammelte, wies der Justizminister als Propaganda zurück.
Am Montag gingen die "Säuberungen" weiter. Der Nachrichtenagentur Dogan zufolge begann die Polizei mit Razzien in drei Istanbuler Gerichten. Die Durchsuchungen ständen im Zusammenhang mit Haftbefehlen gegen 173 Bedienstete der Gerichte. Es soll auf Festnahmen gegeben haben.
Auch 42 Journalisten sind bisher in Haft genommen worden
Das Tempo der Jagd auf die "Gülenisten" ist langsamer geworden. Die Zeit der großen Kahlschläge in Armee, Verwaltung und Universitäten mag vorbei sein. Dafür kommen nun die Haftbefehle. 676 suspendierte Richter und Staatsanwälte sollen ins Gefängnis. Zekeriya Öz, der schillerndste Staatsanwalt, der Generäle ebenso wie den Fenerbahce-Präsidenten hinter Gitter gebracht hatte, ist gerade in Georgien festgenommen worden. Den ehemaligen Fußballstar Hakan Sükür will die türkische Justiz auch haben.
Neben der Flut an Haftbefehlen wird die Staatskontrolle über alle Verdächtigen in dieser Türkei nach dem 15. Juli immer spürbarer, gegen angebliche Gülen-Anhänger ebenso wie gegen Regierungskritiker und politisch Andersdenkende: Ausreiseverbote, gesperrte Bankkonten, geblockte Twitterkonten. Auch 42 Journalisten sind bisher in Haft genommen worden.
Erdogan regiert nun per Dekret, wie er es immer wollte. Fünf Tage wartete der türkische Staatspräsident, bis er seinen Landsleuten nach dem Putsch die Verhängung des Ausnahmezustands bekannt gab. Kalkül und bewusst dramatische Inszenierung? Kadri Gürsel, ein regierungskritischer Kolumnist, war einer der Ersten, der eine andere Lesart präsentierte: Erdogan habe nach der Putschnacht erst allmählich begriffen, wie schwach er in Wirklichkeit ist. Der Mann, der seit 14 Jahren an der Macht ist, musste feststellen, dass er niemandem im Sicherheitsapparat und in der Armee wirklich trauen kann.
Drei Monate, bis zum 20. Oktober, gilt der Ausnahmezustand – erst mal. Anders als seine Minister hat Erdogan signalisiert, dass er diese Zeit besonderer Machtfülle auch ausschöpfen will und nötigenfalls nochmals um drei Monate verlängern wird. Mit seinen ersten Dekreten stellte Erdogan die Armee weiter unter zivile Kontrolle und ließ die Militärschulen schließen. Das Parlament muss die Dekrete im Nachhinein billigen. Dort hat Erdogans konservativ-islamische AKP ohnehin die absolute Mehrheit. Aber der Staatschef mit der autoritären Gesinnung kann sich derzeit auf Rechtsnationalisten und Sozialdemokraten stützen. Erdogan hat einen Burgfrieden mit Teilen der Opposition geschlossen. Es ist die große Überraschung dieser ersten vier Wochen nach dem gescheiterten Putsch.
Am 24. August wird US-Vizepräsident Biden in der Türkei erwartet
Nationalisten und Sozialdemokraten hatten seit Jahren vor der Unterwanderung durch das Netzwerk des Islamisten Gülen gewarnt. „Wir haben nicht zugehört“, gab Bekir Bozdag, der Justizminister und einer der Vizeregierungschefs, mittlerweile zu. Gülen war ein politischer Verbündeter Erdogans und der AKP. Die enorme Säuberungswelle, die Ankara losgetreten hat, ist zugleich das Eingeständnis eines politischen Fehlers. Erdogan entschuldigte sich dafür – und schlägt außenpolitisch immer gröbere Töne gegenüber Europa und den Vereinigten Staaten an.
Am 24. August wird nun US-Vizepräsident Joe Biden in der Türkei erwartet. Eine Delegation des amerikanischen Außen- und Justizministeriums kommt einen Tag zuvor, um das Terrain zu bereiten: Es geht um die Auslieferung Fetullah Gülens aus den USA. Dass Biden und nicht wie bisher angekündigt Außenminister John Kerry nach Ankara reist, lässt bei der türkischen Führung die Überzeugung wachsen, dass die USA Erdogans Wunsch nach der Auslieferung des einstigen politischen Glaubensbruders erfüllen.