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Angehörige und Freunde von Tugce trauern am Dienstag vor dem Landgericht in Darmstadt (Hessen) nach der Urteilsverkündung und halten Bilder von ihr. Das Gericht verurteilte ihn wegen des gewaltsamen Todes der Studentin Tugce A. zu drei Jahren Haft.
© dpa

Urteil im Tugce-Prozess: "Er ist kein Killer"

Das Gericht verurteilt den Angeklagten Sanel M. im Fall Tugce zu drei Jahren Jugendhaft. Die Verteidigung kündigt Revision an – sie hält die Strafe für zu hoch.

Als Sanel M. den Gerichtssaal im rosa Pullover und mit einem großen Briefumschlag vor dem Gesicht betritt, umringen ihn sofort seine Verteidiger. Sie schirmen den Angeklagten vor den wartenden Fotografen und TV-Kameras ab. Es ist ein sinnbildlicher Akt, wie die Anwälte den 18-Jährigen im Prozess um die getötete Tugce Albayrak ein letztes Mal zu schützen versuchen. Ihr Mandant ist für seinen verhängnisvollen Schlag in der Nacht des 15. November 2014 auf dem Parkplatz einer Offenbacher McDonald’s-Filiale schon vor Prozessbeginn öffentlich verurteilt worden, manche Medien zeigten unverpixelte Bilder von ihm, nannten ihn den Koma-Schläger. Die Fotografen können Sanel M.s Anwälte noch abwehren, nicht aber die Verurteilung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren Haft wegen Körperverletzung mit Todesfolge.

Mit ruhiger Stimme verkündet Jens Aßling, der Vorsitzende Richter, das Urteil der Großen Strafkammer am Landgericht Darmstadt. Eine junge Frau im Zuschauerraum schluchzt auf und beginnt zu weinen. Sanel M. nimmt die Worte des Richters regungslos auf – wie zuvor fast alles im Prozess gegen ihn. „Der Angeklagte ist nicht der Killer, zu dem ihn eine große Zeitung gemacht hat“, sagt Aßling. Am Anfang habe es eine wahre Kampagne einer großen Zeitung gegeben, der Sanel M. ausgeliefert gewesen sei und deren Sichtweise viele blind gefolgt seien. Damit meint der Richter auch Bundespräsident Joachim Gauck: „Es ist schwierig für ein Gericht, wenn sich oberste Repräsentanten eines Landes äußern und Schuldzuweisungen verteilen.“ Das sei nicht in Einklang zu bringen mit der staatlichen Neutralität.

Der Angeklagte Sanel M. sitzt am Dienstag zur Urteilsverkuendung im sogenannten "Tugce-Prozess" neben seinem Rechtsanwalt Stephan Kuhn (r) im Landgerichtssaal in Darmstadt.
Der Angeklagte Sanel M. sitzt am Dienstag zur Urteilsverkuendung im sogenannten "Tugce-Prozess" neben seinem Rechtsanwalt Stephan Kuhn (r) im Landgerichtssaal in Darmstadt.
© dpa

Aßling holt nicht zum Rundumschlag aus, aber er holt weit aus, bevor er zum ausschlaggebenden Punkt für das Urteil in diesem viel beachteten Prozess kommt: „Der Angeklagte wollte Tugce Albayrak ordentlich eine langen“, ist Aßling überzeugt. Und wer jemandem ins Gesicht schlage, müsse damit rechnen, dass diese Person stürzt. Wer stürze, könne wiederum mit dem Kopf auf den Boden schlagen und sich schwere Kopfverletzungen zuziehen. „Das muss der Angeklagte wissen, das muss er sich zurechnen lassen“, erklärt Aßling.

Die Verteidigung will in Revision gehen

Zu Prozessbeginn hatte M. die Tat gestanden, aber beteuert, niemals mit Tugces Tod gerechnet zu haben. Die Verteidiger von Sanel M. teilen nach der Urteilsverkündung umgehend mit, dass sie ihrem Mandanten empfehlen würden, den Richterspruch anzufechten und in die Revision zu gehen. In ihren Plädoyers hatten die Anwälte noch darauf verwiesen, dass die Ohrfeige, wie sie Sanel M. Tugce Albayrak verpasst habe, bis vor einigen Jahren in Deutschland noch ein zulässiges Erziehungsmittel gewesen sei. Da die Todesfolge keinesfalls absehbar gewesen sei, hatten sie eine Bewährungsstrafe für ihren Mandanten gefordert.

Die Mutter von Tugce (l) wird am Dienstag vor dem Landgericht in Darmstadt nach der Urteilsverkündung von einer anderen Frau getröstet.
Die Mutter von Tugce (l) wird am Dienstag vor dem Landgericht in Darmstadt nach der Urteilsverkündung von einer anderen Frau getröstet.
© dpa
Der Vater der getöteten Tugce A. wartet am Dienstag im Verhandlungssaal im Landgericht in Darmstadt auf das Urteil gegen Sanel M..
Der Vater der getöteten Tugce A. wartet am Dienstag im Verhandlungssaal im Landgericht in Darmstadt auf das Urteil gegen Sanel M..
© dpa

„Der Angeklagte hat Tugce Albayrak einen ausholenden Schlag verpasst“, erwidert der Richter Jens Aßling in seiner Urteilsbegründung. Eine Ohrfeige beschreibe Sanel M.s Tat nicht ausreichend. Der Angeklagte neige dazu, Konflikte mit Gewalt zu lösen. Das zeigten auch seine Vorstrafen, die er sich nicht zu Herzen genommen habe. Sanel M. sei ein unausgereifter junger Mann, der viele Entwicklungsschritte verpasst habe und dessen „schädliche Neigungen“ in der Jugendhaft etwa durch Anti-Aggressions-Training zu behandeln seien.

Sanel M. könnte nach der Hälfte der Haftdauer entlassen werden

Als Sanel M. aus dem Gerichtssaal geführt wird, ruft eine Frau seinen Namen. Sie könnte seine Mutter sein. Kurz schaut er hinüber zu ihr. Nicht einmal ein Gruß ist von seinem Gesicht abzulesen. Seine Mimik bleibt starr. Dann ist er verschwunden.

Wie lange der 18-Jährige voraussichtlich im Gefängnis bleiben wird, erklärt draußen vor dem Gerichtssaal Oberstaatsanwalt Alexander Homm: „Nach der Hälfte der Haftdauer wird eine Aussetzung der Haft geprüft.“ Die Entscheidung darüber hänge allerdings von der Mitarbeit Sanel M.s ab. An Homm vorbei drücken sich Tugces Eltern und ihr Bruder Dogus wortlos durch die Menschenmasse vor dem Gerichtssaal.

Für sie tritt Nebenklageanwalt Macit Karaahmetoglu vor die Kameras. „Das Gericht hat eine klare Sprache gefunden und die Tat nicht bagatellisiert“, sagt er. Die Familie Albayrak sei erleichtert, dass der Prozess nun zu Ende sei.

Dass es womöglich noch nicht das Ende in diesem Fall gewesen sein könnte, kündigt ein paar Meter weiter Sanel M.s Verteidiger Stephan Kuhn an. Die beispiellose Vorverurteilung von Sanel M. sei im Urteil nicht ausreichend gewürdigt, die Strafe zu hoch. „Wir werden unserem Mandanten eine Revision nahelegen“, sagt Kuhn.

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