Sanel M. im Fall Tugce vor Gericht: Tatvideo verunsichert die Zeugen
Wie es zu dem tödlichen Schlag gegen Tugce kam, zeigen Bilder aus einer Überwachungskamera. Die Videos tragen im Prozess gegen Sanel M. aber nicht nur zur Wahrheitsfindung bei. Sie haben auch die Zeugen beeinflusst. Eine schwere Bürde für das Verfahren.
Tugces Eltern bleiben der Verhandlung fern, als sich die Jugendkammer die Tatvideos von dem Parkplatz des Offenbacher Schnellrestaurants ansieht. Die unscharfen Bilder aus der Überwachungskamera spielen in dem Prozess gegen den Angeklagten Sanel M., der am 24. April vor dem Darmstädter Landgericht begonnen hat,eine zentrale Rolle.
Dass sie viele Monate vor Verfahrensbeginn im Internet auftauchten, erschwert allerdings auch die Wahrheitsfindung. „Es erscheint mir unmöglich, dass die Zeugen noch in der Lage sein werden, zwischen real Erinnertem und - gemeinsam - Gesehenem zu unterscheiden“, sagt der Strafrechtler und Richter am Oberlandesgericht Matthias Jahn.
„Durch das Video wurde ich total durcheinander“, sagt eine 26 Jahre alte Bekannte von Tugce im Zeugenstand. „Ich habe es (das Video) wirklich studiert“, berichtet eine 21-jährige Freundin der getöteten Lehramtsstudentin als Zeugin. Das Video habe sie verunsichert, sagt die Auszubildende aus Maintal. Obwohl sie gesehen habe, wie Sanel Tugce geschlagen hat, sei sie danach nicht mehr sicher gewesen, mit welcher Hand.
„Wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, auseinanderzuhalten, was echte Erinnerung ist, was die Wiedergabe von Videos ist und was die Wiedergabe von Erzählungen ist“, sagt Stephan Kuhn, einer der drei Anwälte des wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagten 18-jährigen Sanel M.. „Das macht in diesem Prozess die Wahrheitsfindung sehr, sehr schwer.“ Staatsanwalt Alexander Homm stellt nach der Vernehmung von sechs Freundinnen Tugces fest: „Einige Zeuginnen haben (vor Gericht) verhaltener ausgesagt (als bei der Polizei). Man merkt, dass einiges verschwimmt.“
Der Vorsitzende Richter Jens Aßling fordert die Zeuginnen immer wieder auf, genau zwischen Erlebtem, Besprochenem und im Video Gesehenem zu unterscheiden. „Ihre Schilderung klingt deutlich dramatischer als damals ihre Vernehmung bei der Polizei“, sagt er zu einer 22 Jahre alten angehenden Krankenschwester aus Wächtersbach. „Viele Sachen haben Sie damals nicht gesagt.“
„Das Kind ist jetzt in den Brunnen gefallen, und die Staatsanwaltschaft und das Gericht werden es da im Zweifel nicht wieder herausholen können“, sagt der Frankfurter Professor Jahn zu der vorzeitigen Veröffentlichung der Videos. „Die Suggestivkraft dieser Aufnahmen ist für die Beteiligten so groß, dass man von einer Sogwirkung sprechen kann.“ Ob dies zugunsten oder zulasten des Angeklagten ausgehe, lasse sich noch nicht sagen. „Das zeigt ja gerade, wie ungerecht das ist. Dass es vom Zufall abhängt, ob möglicherweise die Strafe zufällig milder oder schärfer ausfällt, nur weil das Wissen der Beteiligten kontaminiert ist durch falsche Erinnerungsfetzen.“
Mehrmals werden den 20 bis 29 Jahre alten Zeuginnen Auszüge aus ihren Vernehmungen bei der Polizei vorgelesen und sie werden auf Widersprüche zu ihren Aussagen vor Gericht hingewiesen. Dazu gehört die Frage, ob sich die 22 Jahre alte Tugce von einer Freundin losgerissen hat, die sie kurz vor dem entscheidenden Schlag von Sanel weggehalten haben soll. Widersprüche in den Aussagen einer Zeugin erkannte das Gericht auch bei der Frage, ob Sanel vor dem Schlag noch einmal wütend umkehrte, weil Tugce ihm etwas nachgerufen hat.
Für Verwunderung sorgt im Gerichtssaal, dass einige Zeuginnen angeben, das Video höchstens zu zweit gesehen und weder ausführlich darüber noch über die Tatnacht miteinander gesprochen zu haben. Ein juristisches Nachspiel kann die Aussage der 26 Jahre alten Zeugin haben. Sie räumt nach Nachfragen ein, das Video doch nicht nur mit einer Freundin, sondern mit fast allen anderen Mädchen gesehen zu haben. Das ist ein Widerspruch zu den Aussagen anderer Zeuginnen.
Staatsanwalt Homm kündigt an, seine Behörde werde die Aussagen der Frauen genau prüfen und möglicherweise gegen einige Verfahren wegen Falschaussage einleiten. Ermittelt wird zudem noch immer, wie die Bilder der Überwachungskamera an die Medien gelangten.
Ungeachtet der Glaubwürdigkeit der Zeuginnen, welchen Unterschied macht es, ob sie nur über die Tat gesprochen oder auch Videos darüber gesehen haben? Strafrechtler Jahn sagt: „Die Suggestivkraft der Bilder hat gerade in dieser Generation einen ganz großen Einfluss auf die Erinnerung. Das macht den Unterschied.“ Es falle der Video- und Handygeneration viel schwerer, Gesehenes und Erinnertes auseinanderzuhalten als Gehörtes und Erinnertes. Der Anwalt von Tugces Familie, der Nebenklage, Macit Karaahmetoglu, ist indes froh, dass es das Video überhaupt gibt. „Ohne das Video würde er (der Angeklagte) bis heute schweigen.“ (dpa)
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