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In die Büsche geschlagen. Engländer betrachten das Spektakel von einem Hügel aus.
© dpa

Radsport: England kommt auf Touren

Tour de France auf der Insel: Millionen sind auf den Beinen – die Briten sind immer begeisterter vom Radfahren. In London ist es die einzige Möglichkeit, schnell durch die Straßen zu kommen.

Hunderttausende waren gestern in London unterwegs, viele mit nur einem Ziel: Mit dem Handy ein „Selfie“ von sich, allein oder mit Freunden, an der dritten Etappenstrecke der Tour de France zu machen. Wie sonst die 20 Sekunden im Gedächtnis festhalten, in denen der Peloton der fast 200 Fahrer vorbeisaust? Jeder will beweisen: Ich war dabei, als die Tour de France 2014 in meiner Stadt war.

Stunden, bevor die „Karawane“, die Werbevorhut der Tour, die Strecke passierte, fuhren in Lycra tourmäßig gekleidete Hobby-Radfahrer die Strecke auf und ab, um sich in bunter Tour- Szenerie fotografieren zu lassen. „Wahnsinn“, schimpften die echten Tour-Profis, besorgt um ihre Sicherheit. „Eine gefährliche Mischung aus Eitelkeit und Dummheit, mitten in der Straße zu stehen, den Rücken zur Rennstrecke, wenn 200 Fahrer auf dich zurasen“, sagte US-Fahrer Tejay van Garderen.

„Genießt die unbeschreibliche Atmosphäre“, lud dagegen Großbritanniens Fahrradstar Mark Cavendish die Londoner ein, nachdem er selbst am ersten Tag in Yorkshire stürzte und mit Schulterprellung ausscheiden musste. „Wer noch nie die volle Energie und Intensität der Tour erlebt hat – kommt und schaut das Finish in London an an. Es ist unglaublich.“

Für die dritte Etappe setzte sich die Tour gestern in Cambridge in Bewegung, passierte dort die großen historischen Wahrzeichen wie St. John’s College und King’s College. Alle Schlaglöcher auf der schnellen 155-Kilometer-Strecke nach London waren repariert. Es ging durch den Olympiapark, am Tower vorbei zum Parliament Square, dann im Sprint die Mall hinunter zum Buckingham-Palast.

Schulen und Operationssäle geschlossen

Praktisch die gesamte Strecke war von Menschen gesäumt. Londoner wollten sich in ihrer Begeisterung nicht von den Menschen in Yorkshire übertreffen lassen. Dort war der Start der Tour, der „Grand Depart“ von Leeds durch die wunderschönen „Yorkshire Dales“ von 2,5 Millionen Menschen verfolgt worden. In London hatten 100 Schulen geschlossen, Unternehmen den Angestellten freigegeben, zwei Krankenhäuser an der Tour-Strecke sagten alle Operationen ab.

Die Tour bilde eine „Berliner Mauer“ durch weite Teile Ostlondons, mit Straßensperrungen und Umleitungen, warnte die Stadtzeitung „Evening Standard“. Auch die Verkehrsbehörde riet: „Kommt am besten mit dem Fahrrad und macht euch einen schönen Tag.“

Spätestens seit Olympia 2012 sieht sich London als Fahrrad-Hauptstadt der Welt. „Großbritannien ist die Fahrrad-Nation Nummer 1“, behauptete Sir Dave Brailsford, Chef des britischen Team Sky bei der Tour und als Trainer verantwortlich für das exzellente Abschneiden der britischen Radfahrer bei den Olympischen Spielen 2008 und 2012. Kann Radstar Chris Froome seinen Tour-Sieg von 2013 verteidigen, würde Großbritannien nach dem Tour-Sieg von Bradley Wiggins 2012 zum dritten Mal hintereinander gewinnen. Aber seine beste Lebensleistung seien nicht die Tour-Siege oder die olympischen Medaillen, „sondern, dass 2,1 Millionen Briten nun regelmäßig aufs Fahrrad steigen“, sagte Brailsford. Dabei gehe es „nicht nur um Medaillensiege, sondern den Kampf gegen Großbritanniens Übergewichtskrise“.

In London hat sich die Zahl täglicher Fahrrad-Trips seit 2000 auf fast 600 000 mehr als verdoppelt. Eine halbe Million Menschen dürften täglich aufs Fahrrad steigen, um im chronisch verstopften Verkehr schneller voranzukommen. Plusfaktoren sind ein nationales Netz von Fahrradwegen, das ausgebaut wird, und die Förderung des Fahrradfahrens durch Londons Bürgermeister Boris Johnson, der selten ohne Fahrrad zu sehen ist. Nach ihm wird Londons Netz von Leihfahrradstationen „Boris Bikes“ genannt.

Die Idee kam beim Rasieren

Laut der London School of Economics trägt das Fahrrad inzwischen jährlich drei Milliarden Pfund zur britischen Volkswirtschaft bei – berechnet werden die „sozialen und wirtschaftlichen Gewinne“. Allerdings sind auch die Kosten hoch: Im November 2013 kamen in einem Zeitraum von zwei Wochen sechs Fahrradfahrer in London ums Leben. Aber Stück für Stück werden Londons Straßen sicherer – in diesem Jahr liegt die Zahl bei bisher sechs Toten.

Kein Wunder, dass London gestern dem „gelben Fieber“ zum Opfer fiel. Pubs, Geschäfte, Stadtbehörden, Privatpersonen – alle hatten bunt geflaggt, Picknicktische herausgestellt, die Straßen geschmückt. Wie in Yorkshire tauchten unvermutet gelb gestrichene Fahrräder auf. Ein Taxiunternehmen in Woodford hatte eines aufs Taxidach montiert. In Epping tauchte sogar im Schaufenster eines Beerdigungsinstituts ein Fahrrad auf. Überall putzten sich die Schaulustigen heraus, mit weißen Tour-Shirts mit roten Punkten oder waren von Kopf bis Fuß in gelbe Overalls gehüllt.

Der Start der Tour in Yorkshire war eine Idee, die dem Tourismuschef der Region, Gary Verity, beim Rasieren kam. Er habe Yorkshire, das sich von Erfolgsregionen wie London oder Manchester überschattet fühlte, mehr Selbstbewusstsein geben wollen. „Was könnten wir in Yorkshire tun, das global massiv Aufmerksamkeit erregen würde“, fragte er sich – und die Idee war geboren.

Matthias Thibaut

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