Lebenserwartung: Die Menschheit altert - wer lebt am längsten?
Jedes Jahrzehnt steigt die Lebenserwartung der Menschen im Mittel um dreieinhalb Jahre. Ein Ende ist nicht abzusehen. Woran das liegt - und worauf es ankommt.
Niemals zuvor konnten Menschen so alt werden wie in der Gegenwart. Zwar gab es immer schon Einzelne, die ein sehr hohes Alter erreichten – die Bibel berichtet bekanntlich von einem Methusalem, der 969 Jahre alt geworden sein soll. Doch die meisten hatten bis in die Neuzeit hinein aufgrund von Krankheiten, Kriegen und Kindersterblichkeit keine Chance, ins Greisenalter zu kommen. Seit gut einem Jahrhundert ist das anders. Im weltweiten Mittel stieg die Lebenserwartung seit 1900 von etwa 30 auf mittlerweile rund 71 Jahre – ein Zugewinn von dreieinhalb Jahren pro Jahrzehnt. Und ein Ende dieser historisch beispiellosen Entwicklung ist nicht abzusehen.
Frauen in Deutschland kommen schon jetzt auf mehr als 83 Jahre
Die rasant gestiegene Chance des Älterwerdens für immer mehr Menschen beschreibt das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in einer detaillierten Studie. Japanische Frauen sind demnach die Rekordhalterinnen. Sie kommen im Durchschnitt auf 87 Jahre. In Deutschland kann ein neugeborener Junge derzeit mit 78,2 Jahren rechnen. Mädchen kommen auf 83,1 Jahre. Tendenz steigend. Im Wilhelminismus hatten Neugeborene hierzulande grade mal die Aussicht, 43 zu werden.
In den Schwellen- und Entwicklungsländern setzte der Anstieg später ein. Doch nun legen Afrika und Südostasien am schnellsten zu. Zwar klafft zwischen Afrika und den reichen Regionen noch eine Lücke von 17 Jahren. Und der Aids-Ausbruch warf Staaten wie Südafrika zeitweise um zehn Jahre zurück. Doch im Ganzen hole man dort jetzt eine Entwicklung nach, die sich in den Industriestaaten 100 Jahre früher vollzogen habe, schreibt Autorin Sabine Sütterlin. Dank besserer Ernährung und Hygiene, sauberem Trinkwasser, Zugang zu medizinischem Fortschritt verlören einst todbringende Infektionskrankheiten ihren Schrecken. Und auch auf das Konto von Hunger, Naturkatastrophen, Kriegen und gefährlicher Arbeit gingen weit weniger Todesopfer als noch vor Jahrzehnten.
Statt Seuchen und Infektionen drohen Wohlstandserkrankungen
Was die Lebenserwartung lange drückte, war die Kindersterblichkeit. In Schweden lag sie Ende des 19. Jahrhunderts noch höher als heute in Angola – von 1000 Kindern starben mehr als 150 in den ersten fünf Jahren. Auch 2015 erlebten weltweit 5,9 Millionen Kinder ihren fünften Geburtstag nicht. Doch es sind weniger als halb so viele wie 1990. In Deutschland kommen derzeit vier Todesfälle auf 1000 Lebendgeborene. Stattdessen rückt die Sterblichkeit höherer Altersgruppen ins Visier. Eine steigende Lebenserwartung hängt in unseren Breitengraden also vor allem daran, dass sich die Lebensspanne bereits gealterter Menschen verlängert.
In den Industriestaaten sind laut Studie neun von zehn Todesfällen auf Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen. Auch global betrachtet sind Durchblutungsstörungen und Schlaganfälle schon die häufigste Todesursache. Nur in ärmeren Ländern kommen mehr Menschen durch übertragbare Krankheiten zu Tode. Lungenentzündungen, Durchfälle, HIV, Tuberkulose, Malaria. Und einer von acht Todesfällen geht aufs Konto von Feinstaub oder toxischen Verbrennungsrückständen. Vor allem in Südostasien und im östlichen Mittelmeerraum sind offene Feuerstellen ein großes Sterberisiko.
Zwischen Japan und Sierra Leone klaffen bei der Lebenserwartung 34 Jahre
Im Ländervergleich leben Japaner am längsten – im Schnitt 83,7 Jahre. Das Schlusslicht bildet Sierra Leone, die Differenz beträgt 34 Jahre. Es folgen auf Japan die Schweiz, Singapur, Spanien, Australien, Italien, Israel. Doch auch in Europa gibt es große Unterschiede. In manchen Ländern Süd- und Westeuropas werden die Menschen älter als 82.
In Deutschland werden sie im Durchschnitt 81. Bewohner der Russischen Föderation erleben dagegen im Mittel nicht mal den 70. Geburtstag. Weißrussland, Moldawien, die Ukraine und Russland haben die niedrigsten Werte Europas, sie sind auf einem Level mit Bangladesch oder Guatemala. Und in den USA klaffen zwischen dem County mit der höchsten und der niedrigsten Lebenserwartung 20 Jahre.
Bei der Suche nach Gründen sticht eines sofort ins Auge: Wo mehr Reiche wohnen, wird man älter. Weniger extrem als in den USA lässt sich das auch hierzulande nachweisen. So ergab eine Studie, dass man im Landkreis Starnberg im Durchschnitt gut acht Jahre länger lebt als in Pirmasens. Und das Robert-Koch-Institut hat errechnet, dass Männer aus benachteiligten Schichten in Deutschland zehn Jahre früher sterben als Geschlechtsgenossen aus bessergestellten Familien. Männliche Neugeborene der ärmsten Kategorie kommen demnach auf 70,1 Jahre, die wohlhabendsten auf 80,9 Jahre. Bei Frauen sind es 76,9 und 85,3 Jahre.
Eine wichtige Rolle spielt das Gesundheitssystem
In Osteuropa seien an der Lebenserwartung die Folgen des gesellschaftlichen Umbruchs nach dem Ende der Sowjetunion zu besichtigen, sagt der geschäftsführende Direktor des Berlin-Instituts, Reiner Klingholz. So habe Russland bis heute das Niveau der 70er und 80er Jahre nicht wieder erreicht. Zur hohen Sterblichkeit der Männer trage aber auch der hohe Wodka- und Tabakkonsum bei. Mehr als jeder zweite Todesfall dort sei auf Alkohol zurückzuführen.
Welche Rolle das System spielt, lässt sich am ehemals geteilten Deutschland studieren. Bis in die 70er Jahre habe es bei der Lebenserwartung zwischen Bundesrepublik und DDR kaum Unterschiede gegeben, sagt Klingholz. Dann blies der Westen zur „kardiovaskulären Revolution“, Herz-Kreislauf-Erkrankungen wurden plötzlich besser behandelbar – und die Lebenserwartung driftete auseinander. Erst durch die Wende hätten die Ostdeutschen wieder aufgeholt.
Hohe Gesundheitsausgaben bedeuten aber nicht per se hohe Lebenserwartung. So werden US-Amerikaner im Schnitt nicht älter als Menschen in Kuba oder Costa Rica – obwohl sich ihr Land das teuerste Gesundheitssystem der Welt leistet. 17,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts wendeten die USA dafür auf, berichtet Sütterlin. Beim Altersrekordhalter Japan seien es 10,2 Prozent. Allerdings: Nur neun Prozent der Krankheitskosten in den USA sind über Versicherungen oder Regierungsprogramme gedeckt. Wer alles aus eigener Tasche zahlen muss, geht seltener zum Arzt und zur Vorsorge.
Am wichtigsten für langes Leben sind hoher Sozialstatus und Bildung
Im Endeffekt hängt die Lebenserwartung vor allem an zwei Faktoren: Sozialstatus und Bildung. Beides bedingt einander, es beeinflusst Einkommen und berufliche Stellung, Wohnsituation, Ernährung, Risikoverhalten – alles ganz wesentliche Faktoren für Gesundheit und langes Leben. Beispiel Russland: Männer mit dem geringsten Bildungsniveau sterben dort im Mittel 13 Jahre früher als männliche Akademiker. Menschen mit höherem Bildungsabschluss hätten „eher Zugang zu dem Wissen darüber, welche Verhaltensweisen der Gesundheit zuträglich sind“, heißt es in der Studie. Und: Sie hätten „eher die Motivation, dieses Wissen vorbeugend umzusetzen“.
Exemplarisch zeige sich das an der Änderung der Rauchgewohnheiten, sagt Sütterlin. Seit dem in den 60er Jahren belegten Zusammenhang mit Atemwegs- und Herzerkrankungen habe sich das Rauchen hierzulande „überwiegend zu einem Merkmal wenig Gebildeter, gering Verdienender und sozial Benachteiligter entwickelt“.
Allerdings gibt es eine Ausnahme: die Fettleibigkeit. Anders als in den Industrienationen, wo Adipositas vor allem in unteren Schichten auftritt, neigen in armen Ländern eher höher Gebildete zur Verfettung. Der weltweit höchste Anteil findet sich auf den Inselstaaten im Pazifik. Körperfülle sei dort teilweise sogar zum Statussymbol geworden, heißt es in der Studie. Die Folgeerkrankungen verursachten dort drei Viertel aller Todesfälle. In Kiribati sterben die Menschen im Durchschnitt mit 66 Jahren – fast 16 Jahre früher als in Neuseeland.
Das Problem besteht aber auch in Schwellenländern. Mit Verstädterung und höherem Einkommen übernehmen viele westliche Ernährungsgewohnheiten, essen mehr Fleisch und verarbeitete Produkte mit hohem Zucker- und Fettgehalt. Von 1980 bis 2015 habe sich der Anteil adipöser Menschen in mehr als 70 Ländern verdoppelt, schreibt ein Forscherteam im „New England Journal of Medicine“. Inzwischen seien 2,2 Milliarden Menschen übergewichtig oder gar fettleibig – das entspricht etwa 30 Prozent der Weltbevölkerung.
Der Preis für längeres Leben könnten auch mehr Krankheitsjahre sein
In Deutschland dagegen, wo 21 Prozent der Bevölkerung bereits über 64 sind, boomen Prävention und körperliche Betätigung – zumindest unter den Gebildeteren. „70 ist das neue 60“, lautet ein Slogan von Altersforschern. Mehr Ältere leben derzeit nur in Italien (22 Prozent) und Japan (26 Prozent). Doch allen Bemühungen zum Trotz: Der Preis für die zusätzlich gewonnene Lebenszeit könnten mehr Krankheitsjahre sein. Die Kosten für längeres Leben könnten auch die Systeme reicher Länder überfordern.
Und die steigende Lebenserwartung könnte erhebliche Folgen für Familienstrukturen, Arbeitswelt, Gesellschaft haben. Sind die Rentensysteme den vielen Alten gewachsen? Entstehen neue und schärfere Frontlinien zu jungen Menschen und ihren Bedürfnissen? Scheitern Reformen und wirtschaftliche Weiterentwicklung am Beharrungswillen einer immer stärker werdenden Mehrheit von Betagten?
Den meisten Menschen geht es, wie Umfragen zeigen, weniger um möglichst langes Leben als um Gesundheit bis ins Alter, Unabhängigkeit von anderen, Schmerzfreiheit. Die Frage, wie alt wir werden können, sei für die demografische Forschung gar nicht mehr so interessant, sagt Mikko Myrskylä, Direktor am Max-Planck-Institut in Rostock. Die wesentliche Fragestellung sei vielmehr: Wie werden wir die Lebensjahre verbringen, die wir dazugewinnen?
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