Bombay: Im Herzen grell
Bombay ist Indiens Wirtschaftsmetropole. Eine bunte, rasante, faszinierende Stadt - voller Widersprüche.
Mit langen Haken ziehen die beiden Männer tropfende Eisblöcke von der Ladefläche eines Lasters. Krachend fällt das Eis in den Trichter einer Häckselmaschine. Laut puffend speit der Eintakter dann das zerstückelte Eis auf den Kai der Sassoon Docks, den mit Pfützen übersäten Handelsplatz in Bombay. Es ist früh am Vormittag. Auffallend dunkelhäutige Inder sortieren angelandete Fische und wiegen sie. Fast scheint es, als hielten sich hier Fische und Menschen auch zahlenmäßig die Waage. An Menschen ist hier kein Mangel, an Fischen im Arabischen Meer offenbar auch nicht.
Vieles, sehr vieles in diesem Fischereihafen sieht vorsintflutlich aus. Wie aufgebahrt liegen die Fische in der Sonne: Riesenmuränen, Riffkalmare, Moses-Seezungen, Feuerfische. Gleich werden sie geschuppt. Dunkelhäutige Frauen in schäbigen Saris hocken im Kreis am Boden. Unberührbare. Zwar gibt es laut Gesetz diese Kaste der Ärmsten der Armen längst nicht mehr, doch in der indischen Gesellschaft ist das Denken von denen da oben und denen da unten fest verankert.
Im Oberoi Hotel, nur einen Steinwurf entfernt am Nariman Point, duftet es nach Aloe Vera, nach Honig, nach Messingpolitur und frisch gechlortem Wasser. Der Wasserfall in der Lobby ergießt sich in eine überdimensionale Vase mit frischen Blumen. Das erste Business-Hotel am Platze hat seine eigene Wirklichkeit. Die Sassoon Docks sind ganz in der Nähe und doch Lichtjahre entfernt.
An Menschen herrscht auch im Hotel kein Mangel. Die Bediensteten arbeiten in ihren beigefarbenen Dienst-Saris emsig und dezent im Hintergrund – rufen hier den Aufzug, polieren dort die Beschläge, wischen weiter hinten in der riesigen Lobby einen Teil des Bodens wieder spiegelblank. Sie sind ständig aufmerksam, und das Lächeln, das sie jedem Besucher schenken, erscheint sogar echt.
Die freundliche Welt dieses Mikrokosmos legt sich wie Watte um den Reisenden, der sich erst an das Rohe, Laute, Grelle, Fremdartige dieser Stadt gewöhnen muss. In Bombay gibt es zum Beispiel viele Hotels. Und doch ist es für den normalsterblichen Mitteleuropäer schwierig, eines zu finden. Nur einer von den vielen Widersprüchen dieser Stadt: Es gibt teure Hotels, es gibt billige Hotels – dazwischen gibt es nichts. Nicht ganz unähnlich der indischen Gesellschaft – aber die Verhältnisse ändern sich rasant. Längst hat sich eine Mittelschicht formiert, und sie wächst.
Sanft zieht die Küstenlinie beim Blick aus dem verglasten Innenhof des Oberoi mit einem langen Schwung zum Marine Drive weiter. Dort werden am Pool des Dachgartens im Hotel Intercontinental hoch über der Stadt Drinks serviert. Abends verkehren an dieser Promenade mit bunten Lichtern geschmückte Pferdegespanne. Eine Kutschfahrt ist ein ebenso preiswertes Vergnügen wie eine Fahrt mit einem der rund 50 000 Fiat-Taxis aus den fünfziger Jahren.
Menschliche Arbeitskraft ist in diesen Land (noch) immer und überall billig zu haben. Schon für einen Monatslohn von vierzig Euro zum Beispiel können indische Familien eine Haushälterin anstellen. Und für zehn Euro im Monat holen die „Dabbawallas“, die sogenannten Henkelmänner, Mittagessen zu Hause bei den Familien ab, um es dem Mann, dem Sohn oder dem Enkel zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln an ihre Arbeitsstätten zu bringen. Seit mehr als hundert Jahren funktioniert dieses einzigartige System. Rund 400 000 Mittagessen werden täglich durch die Stadt transportiert. Zu 99,9 Prozent kommen sie richtig an. Sagt man.
Ohne sehr gute Ortskenntnisse findet man sich in der Stadt mit 13,7 Millionen Menschen allerdings kaum zurecht. Zwar ragt Bombay wie eine Halbinsel ins Meer und ist damit natürlich begrenzt, doch auch nach Tagen wirkt die Stadt auf den Besucher noch unübersichtlich: Die Menschenmassen verstellen den Blick auf die städtebaulichen Strukturen. Im südlichen Teil, dort, wo auch das Taj Mahal Hotel und das bekannteste Wahrzeichen der Stadt, das „Gateway of India“ stehen, erstreckt sich das Finanzzentrum. Im Norden liegen die Filmfabriken von „Bollywood“, daneben der Flughafen, umgeben von Slums gewaltigen Ausmaßes, von Firmenzentralen und Werkshallen.
Jeroo Bharucha kennt sich hingegen bestens aus. Sie ist Fremdenführerin in Bombay. Für einen deutschen Reiseveranstalter zeigt sie Touristen die Stadt Mumbai, wie Bombay seit 1995 offiziell genannt wird. Besonders gern führt Jeroo die Besucher in das „Mani Bhavan“, das Haus in der Laburnum Road, in dem Mahatma Gandhi zwischen 1917 und 1934 wohnte, wann immer er nach Bombay kam. Es ist heute Museum und Dokumentationszentrum. Sechzig Jahre ist es in diesem Jahr her, dass Gandhi ermordet wurde. Doch sein Arbeits- und Wohnzimmer im zweiten Stock sieht aus, als sei der Menschenrechtler und Friedensapostel nur eben für einen Moment entschwunden und habe als Platzhalter honiggelbe Sonnenstrahlen auf seinem weißen Leinensitzkissen hereingebeten. Die Residenz ist heute eine Erinnerungsstätte. Im Erdgeschoss hängt eine Gedenktafel, vor der ein Teil von Gandhis Asche in einer Urne lagert. Die blumengeschmückte Stätte ist anrührend. Jeroo Bharucha faltet ihre Hände und verneigt sich.
Die Leiche Gandhis wurde verbrannt, eine Art der Bestattung, die bei Hindus üblich ist. Bei den Anhängern des Parsismus hingegen ist es heute noch Brauch, Leichname in „Türmen des Schweigens“ auszusetzen. Hoch oben werden die Leichname auf dem Malabar-Hügel auf Betontürmen zum Verwesen ins Freie gelegt. Fleisch und Weichteile des Verstorbenen werden von Vögeln gefressen. Vor allem von Geiern, Raben und Krähen. Letztere gelten in Indien als Symbole des Todes. Erd-, Feuer- oder Seebestattungen kommen bei den Parsen nicht infrage: Die Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft sind ihnen heilig. Sie dürfen auf keinen Fall verunreinigt werden.
In Bombay haben die fünf „Luftbestattungsanlagen“ mehrere Etagen und Plattformen. Immer wenn ein Körper bestattet wird, fliegen Vögel über der benachbarten Parkanlage „Hanging Gardens“ Warteschleifen. Von letzter Ruhe kann an dieser Stelle deshalb kaum die Rede sein. „Als Erstes holen sich die Vögel Augen und Leber der Verstorbenen“, sagt Jeroo Bharucha mit einem Lächeln. Das sei nur fair. Die Menschen äßen ihr Leben lang, schließlich würden sie am Ende eben selbst gegessen.
Die Parsen gelten als Stützen der Gesellschaft, als wirtschaftlich erfolgreiche und weltoffene Menschen, die gerne geben. Sie wollen den Glauben leben, dass die Industrie für Menschen da sein müsse, nicht umgekehrt. Die Art ihres Begräbnisses sei der letzte Dienst, den Parsen an ihrer Gemeinschaft verrichten, sagt die Parsin Jeroo Bharucha.
Die Kontraste sind neben einer ungeheuren Betriebsamkeit und Dynamik das Bombay beherrschende Bild: Da gibt es einerseits Geschwindigkeitskontrollen wie in jeder europäischen Großstadt und andererseits Menschen, die an den Rändern der Straßen dahinvegetieren und nur von der Hand in den Mund leben können. Nachts wärmen sie sich an offenen Feuern, die zahlreich flackern.
Tagsüber gleicht die Stadt einem riesigen Basar, jeder versucht irgendetwas zu verkaufen oder bietet eine Dienstleistung an. Wie der Mann im Schatten der Glasfassaden des Bankenviertels, der sich für ein paar Rupien mit einer Nadel in der einen, einem Wattebausch in der anderen Hand seinen Mitmenschen zum Säubern der Ohren andient.
Oder wie die „Dhobi“, Männer, die nahe der Eisenbahn-Station Mahalakshmi im „Dhobi Ghats“ Wäsche waschen. Jeden Tag werden in dieser wohl größten Open-Air-Wäscherei der Welt Schätzungen zufolge rund eine halbe Million Kleidungsstücke gewaschen. Etwa 10 000 Menschen gehen hier täglich in den steinernen Wannengängen zu Werke und viele schauen ihnen dabei täglich zu – vor allem Touristen. Die Dhobi schlagen die Wäschestücke auf Stein, tauchen sie in ein Wasserbecken, spülen sie in einem zweiten aus und wringen sie. Die Stücke werden zum Trocknen aufgehängt und gebügelt, bis sie schließlich zu großen Bündeln verschnürt auf dem Kopf oder auf dem Rücken zu den Kunden transportiert werden.
Was wird von diesem Alltag überdauern, wenn die Globalisierung aus dem spürbar aufstrebenden Schwellenland Indien wieder eine Weltmacht gemacht hat, deren Herz Bombay dann noch kräftiger als heute schlägt? „Nur die Essenstraditionen werden bleiben und die Sprache“, sagt Alexander Metzler, Gründer und Chef des Reiseveranstalters Enchanting India, das sich auf kurzfristig und individuell buchbare Urlaubsreisen nach Indien spezialisiert hat. Das Grundkapital der Inder seien ihr Optimismus, die Fröhlichkeit und das Selbstbewusstsein, schon bald wieder führend in der Welt zu sein.
Dass dem so sein wird, daran haben vor allem Inder keinen Zweifel. Ein Indikator: Fünf Millionen neue Handynummern werden in Indien monatlich neu vergeben. Nokia baut derzeit in Chennai ein neues Werk für Mobilfunkgeräte. Als Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwungs gilt auch der Umstand, dass die größte private Fluglinie Indiens, Jet Airways, einst nur im Inland unterwegs, ihr Streckennetz nach Europa ausgeweitet hat. Auch die Lufthansa bietet mit der zunehmenden Zahl von Wirtschaftskontakten zwischen Indien und Deutschland immer mehr Sitze an.
Es gibt weitere untrügliche Zeichen des Wandels und der neuen Zeit in Bombay: Eine Umgehungsstraße zum Beispiel, die sie auf riesigen stählernen Stelzen bis auf das Meer hinausbauen. Der Rohbau sieht aus wie eine Perlenkette aus Bohrinseln. Und auch das gibt es noch: In den Slums haben erste Fitness-Studios geöffnet. Sogar eine Filiale von McDonald’s ist eingezogen. Alles wie überall. Rindfleisch-Burger gehen hier allerdings noch nicht über den Tresen. Es gibt eben noch Dinge, die Indern heilig sind.
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