Guide Michelin: Deutsche Restaurants bekommen ihre Zensuren
Der Michelin-Stern ist nach fast 90 Jahren immer noch die begehrteste Auszeichnung für Köche. Dienstag wird in Berlin die neue Deutschland-Ausgabe vorgestellt.
Die Welt der besten Küchenchefs ist voll von Bewertungssystemen – aber keins funktioniert so einfach und plakativ wie der Michelin-Stern. Er wird nicht begründet, kann jederzeit wieder entzogen werden und zeichnet angeblich nur das gute Restaurant und nicht den Koch aus, was der Guide allerdings seit ein paar Jahren durch ausschweifende Gala-Veranstaltungen mit den frisch dekorierten Köchen effektiv dementiert. Am Dienstag bekommen die deutschen Restaurants wieder ihre Zensuren, und zwar im Rahmen einer Gala im „Motorwerk“ in Berlin-Weißensee.
Die ersten Sterne für gute Küche wurden 1923 vergeben
Weshalb ist der Michelin-Stern, der ja auch in doppelter und dreifacher Form auftaucht, das Maß fast aller Dinge im Küchenhandwerk? Die Aura der Herkunft aus dem Mutterland der Gastronomie ist ein Faktor, die lange Tradition ein anderer: Schon im Jahr 1900 erschien der erste Guide in Frankreich als kleines Autofahrer-Handbuch, enthielt Stadtpläne, listete Hotels, Restaurants und Werkstätten auf. 1910 folgte der Guide Deutschland/Schweiz; die ersten Sterne für gute Küche vergab die Redaktion erst 1923, vorerst nur für die französische Provinz. Während der Weltkriege erschien der Guide nicht, mit einer kuriosen Ausnahme: Die Ausgabe 1939 wurde in den USA vor der Invasion in der Normandie nachgedruckt, um den Soldaten eine Orientierungshilfe in die Hand zu geben.
Die erste neue Deutschland-Ausgabe mit Sternen für 66 Restaurants erschien Ende 1965; auch vier Berliner Betriebe waren dabei. Kurios: Aus den ersten 20 Jahren findet sich in Deutschland praktisch kein Hinweis, dass diese Auszeichnung von der Tagespresse überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. Auch der Michelin-Verlag tat nichts dafür, stellte den neuen Band nur lakonisch in die Läden.
Der Guide expandierte in die weite Welt
Heute betreibt der Verlag eine aufwendige PR-Maschinerie, die allerhand zu tun hat. Denn den Guide Michelin gibt es längst nicht mehr nur für Europa, sondern auch, unter anderem, für New York, San Francisco, Bangkok, Hongkong, Japan und Singapur, und auch China ist längst dabei: Der Guide nennt allein für die Stadt Guangzhou 63 Restaurants, davon einige mit Stern. Wie dieser Aufwand überhaupt finanziert wird, ist eine Art Geschäftsgeheimnis. Der Verkauf der Print-Ausgabe – für Deutschland eine mittlere fünfstellige Zahl – dürfte wenig bringen. Es ist aber anzunehmen, dass sich Tourismus-Behörden in fernen Regionen gern beteiligen, weil Restaurants mit dem quasi amtlichen Michelin-Siegel eine hohe Anziehungskraft besitzen. Auch der Kauf des Reservierungssystems „Bookatable“ 2016, das inzwischen in den Online-Auftritt des Guide integriert ist, dürfte den Michelin-Kassen gut tun.
Seit es die Sterne gibt, gibt es auch Mutmaßungen über die Kriterien der Tester. Sie werden formal dargelegt („fachgerechte Zubereitung“) und stets mit der Anmerkung versehen, der Stern stehe nicht für Luxus und steife Atmosphäre, sondern allein für die Küche. Begründungen im Einzelfall gibt es aber nicht. Immerhin zeigt der deutsche Cheftester Ralf Flinkenflügel enttäuschten Küchenchefs auf Wunsch die Test-Protokolle.
Berlin minus fünf
Das große Thema der Branche lautet im Moment: Plant der neue Guide-Chef Gwendal Poullennec eine Revolution? Seine Entscheidung, die legendäre „Auberge de l’Ill“ im Elsass nach 51 Jahren ganz oben auf zwei Sterne zurückzustufen, hat mächtigen Wirbel verursacht. Aber dann folgte eine überraschungsfreie Skandinavien-Ausgabe, und nun stehen die Wetten für Deutschland ziemlich unentschieden. Ein Drei-Sterne-Restaurant für Berlin, das Lokalpatrioten seit langem fordern, gilt als unwahrscheinlich, auch ein neues Zwei-Sterne-Restaurant ist eher nicht zu erwarten. Deshalb wird die Hauptstadt wohl Einbußen hinnehmen müssen, denn seit dem letzten Guide wurden hier zwei Zwei-Sterne-Restaurants (Fischers Fritz, Reinstoff) und eins mit einem Stern (Semmler) geschlossen – Berlin minus fünf. Die größten Chancen auf einen dritten Stern räumen die Branchen-Auguren Nils Henkel (Burg Schwarzenstein, Geisenheim) und Christoph Rüffer (Haerlin, Hamburg) ein.
Wirtschaftliche Auswirkungen eines Sterns
Neben der Bedeutung für das Ego des Kochs hat ein Stern natürlich wirtschaftliche Folgen. Die Rede ist von Umsatzsprüngen von 20 bis 30 Prozent. Noch größer dürfte der Zuwachs bei zwei oder drei Sternen ausfallen, denn dort beginnt die Aufmerksamkeit der weltweit fürs Essen reisenden „Foodies“. Nicht unwichtig: Ein besterntes Restaurant findet auch viel leichter qualifizierte Köche und Kellner. Doch das macht auch Druck, und der bewegt gute Chefs immer wieder dazu, ihre Sterne „zurückzugeben“, um einfach nur noch entspannt für die Stammgäste der Umgebung zu kochen. Den Michelin-Testern ist diese Ansage allerdings egal – sie bewerten, was sie vorfinden.
Aber jedes Restaurant ist anders. In den meisten deutschen Zwei- und Drei- Sterne-Betrieben ist eine Reservierung zumindest unter der Woche innerhalb weniger Tage zu bekommen, während ein Platz in international stilbildenden Restaurants wie dem Stockholmer „Frantzén“ oder dem Kopenhagener „Noma“ (nur zwei Sterne) genauso unerreichbar ist wie einst in Ferran Adriàs „El Bulli“. Wenn also heute einige berühmte Küchen immer auf Monate ausgebucht sind, hängt das eher nicht mit dem Michelin zusammen, sondern mit neuen Mitbewerbern wie der Liste der „50 Best Restaurants“. Der Berliner Lokalmatador Tim Raue, dort als bester Deutscher auf Platz 37 geführt, hat von der Aufnahme enorm profitiert. Aber das heißt nicht, dass er für den dritten Stern nicht seinen linken Arm hergeben würde.
Bernd Matthies
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