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Wahrscheinlich werden in dem Puzzle der Tat immer Steine fehlen. Das bedrückt die Hinterbliebenen der Opfer womöglich ebenso wie die Eltern von Andreas L.
© Reuters

Germanwings-Flug 4U9525: Der Absturz als Tat

Die Katastrophe hat sich plötzlich in ein Verbrechen und dann wieder zurück in eine Katastrophe neuer Dimensionen verwandelt. Wer jetzt schon klarsieht, stochert nur weiter im Nebel herum. Wer jetzt schon Antworten gibt, hat viele Fragen noch nicht gestellt. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Wenn aus einer Katastrophe ein Verbrechen wird, mischt sich Wut in die Trauer. Wenn dieser Wut das Objekt fehlt, weil der selbstmordende Massenmörder ebenfalls nicht mehr lebt, ist die Wut zur dauerhaften Ohnmacht verdammt. Nicht einmal der archaische Vergeltungswunsch lässt sich noch erfüllen. Alle derartigen Gefühle laufen in rasender, marternder Geschwindigkeit in die Leere. Sinnlos war der Tod der 149 Menschen, die Opfer des Flugzeugabsturzes in den französischen Alpen waren, ohnehin. Erschüttert wird jetzt auch der Glaube an die Sinnhaftigkeit der Welt. An ihre Ordnung, an die Gerechtigkeit. Ein Unglück können Trauernde nach einer gewissen Zeit als Schicksal verarbeiten. Bei einem Verbrechen aber tritt das Böse hinzu, geleitet von einem entsprechenden Willen. Vorzeitig zu sterben soll nicht sein. Vorzeitig zu sterben, weil ein anderer dies so wollte, darf nicht sein. Es verletzt das Gefüge aller gemeinschaftlichen Existenz.

Ein Pilot als Täter. Das ist wie ein Arzt, der tötet, ein Priester, der Kinder missbraucht, ein Polizist, der Gaunern hilft. In solchen Momenten offenbart sich Widermenschliches. Passagiere sind für einen Piloten gewissermaßen Schutzbefohlene. Er hat alle Macht an Bord, sie haben gar keine, sind angewiesen darauf, dass alles funktioniert und seine Richtigkeit hat. Gehört künftig zur „normalen“ Flugangst der bange Blick ins Cockpit, in die Gesichter derer, die allein und abgeschottet über Knöpfe und Knüppel herrschen?

Ja, wir wissen, dass nur ein Flugzeugabsturz auf Millionen reibungslos verlaufener Flüge kommt. Wir wissen auch, dass suizidgefährdete oder gar ideologisch fanatisierte Piloten die absolute Ausnahme sind. Aber in entsetzlichen Zeiten kann die Angst vor einer Wiederholung des Entsetzlichen größer sein als alle Vernunft. Das Wissen, dass ein Pilot absichtlich ein Passagierflugzeug in ein Hochgebirgsmassiv steuerte und dort zerschellen ließ, fliegt fortan mit. Es kann präsent sein oder latent vorhanden. Aber wie jedes Wissen ist es von jetzt an in der Welt.

Wut, die zur Ohnmacht verdammt ist, sucht sich Ventile. So etwas muss sich doch verhindern lassen!, lautet der Impuls. Also müssen Vorschriften überprüft, Regeln geändert werden. Die einen rufen nach bewaffneten Flugbegleitern, die anderen nach intensiveren Persönlichkeitstests für Piloten, die nächsten fordern, dass ein Pilot nie alleine im Cockpit sitzen darf. Solange solche Debatten nicht im Aktionismus enden – nach dem Motto: Hauptsache, es geschieht überhaupt etwas –, sind sie sinnvoll und notwendig. Es gibt wohl kein Sicherheitskonzept, das sich durch neue, leidvolle Erfahrungen nicht noch verbessern ließe. Aber immer wird da ein Rest bleiben, auch ein Restrisiko. Vielleicht ließe sich das machtmissbrauchende Potenzial von Menschen durch eine umfassende Gedanken- und Gemütskontrolle begrenzen. Die allerdings kann keiner ernsthaft wollen. Zur Freiheit gehört die Möglichkeit, Böses zu tun. Freiheit ist eine Zumutung, das Böse ihr Preis.

Wer fliegt, bricht auf in die Unversicherbarkeit. Pilot zu werden, war immer der Traum von Andreas L., dem 28-jährigen Täter. Was bislang sonst noch über ihn bekannt wurde, reicht als Erklärung für seine Tat nicht aus. Wahrscheinlich werden in diesem Puzzle immer Steine fehlen. Das bedrückt die Hinterbliebenen der Opfer womöglich ebenso wie die Eltern von Andreas L. Auch sie haben besonderen Zuspruch, besondern Trost verdient. Zum Verlust ihres Sohnes kommen die Unfassbarkeit seiner Tat sowie die quälendsten aller Elternfragen: Liegt es an uns? Haben wir etwas falsch gemacht? Eine öffentliche Erörterung solcher Fragen verbietet sich ausdrücklich.

Und so verwandelt sich die Katastrophe plötzlich in ein Verbrechen und dann wieder zurück in eine Katastrophe neuer Dimensionen. Wer jetzt schon klarsieht, stochert nur weiter im Nebel herum. Wer jetzt schon Antworten gibt, hat viele Fragen noch nicht gestellt. Wer jetzt schon Bescheid weiß, dem mangelt es an Demut. Manches muss erst ertragen worden sein, bevor es verstanden werden wird.

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