Ein Jahr nach dem Anschlag: Brüssel gedenkt der Terroropfer
Am 22. März 2016 töten islamistische Attentäter in der belgischen Hauptstadt 32 Menschen. Ein Jahr danach kommt die Erinnerung zurück.
Die U-Bahn hält längst wieder im Europa-Viertel in der Station Maelbeek, die durch den Selbstmordanschlag am 22. März verwüstet worden war. Und in der Abflughalle im Flughafen Zaventem, wo vor einem Jahr etwa eine Stunde zuvor die Bomben explodiert waren, zeugen nur noch ein paar neue Fußbodenkacheln von den Anschlägen, bei denen 32 Menschen ermordet wurden und über 300 Menschen teils schwerste Verletzungen erlitten. Doch die Folgen der Anschläge sind in Brüssel auch ein Jahr danach zu sehen.
Da ist die Dauerpräsenz des Militärs. Die Soldaten sind zwar weniger geworden, derzeit patrouillieren noch etwa 1200 von ihnen an den wichtigsten Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen der belgischen Hauptstadt. Die Soldaten sind auch nicht mehr vermummt wie in den ersten Wochen nach den Anschlägen. Doch wenn sie mit ihren schweren Waffen im Anschlag in voll besetzten Metro-Zügen patrouillieren, merken viele Pendler auf. Der Anblick von Soldaten im Inlandseinsatz vermittelt das Gefühl von Bedrohung.
Die Terrorwarnstufe ist immer noch hoch. Oft nicken Passanten den jungen Männern in Uniformen zu. Julien Prizzi, ein junger Polizeibeamter, drückt es in der belgischen Tageszeitung „Le Soir“ so aus: „Wenn man ihnen begegnet, fühlt man sich in Sicherheit. Aber man fühlt sich auch wie im Krieg.“
Viele haben das Trauma überwunden
In den ersten Tagen danach war Brüssel wie gelähmt. Die Flohmärkte, eine der Passionen der Brüsseler am Wochenende, waren aus Sicherheitsgründen abgesagt. Das ist zuvor in der belgischen Geschichte nur während der Besatzung durch Nazi-Deutschland vorgekommen. Handel, Restaurants und Hotels klagen zwar immer noch, aber die schlimmsten Verluste haben sie hinter sich.
In Molenbeek, dem berüchtigten Molenbeek, weil etliche Attentäter hier aufgewachsen sind, werden weniger neugierige Touristen gesichtet als in den ersten Wochen. Das ist ein Verlust. Sie könnten sich ansonsten davon überzeugen, dass Molenbeek nur in wenigen Straßenzügen jene ghettohaften Züge trägt, für die es seither weltbekannt wurde. Auf der anderen Seite der Bahnlinie ist Molenbeek ein bürgerliches Wohnviertel, in dem allerdings seit den Anschlägen die Immobilienpreise dramatisch eingebrochen sind. Das Café, in dem Salah Abdeslam, einer der überlebenden Drahtzieher, mit seinen Kumpels Alkohol getrunken und Drogen konsumiert hatte, ist immer noch verbarrikadiert. Es gibt Bestrebungen, es in einen Jugendklub umzuwandeln.
Die meisten Bewohner in der Hauptstadt haben ihr Terror-Trauma wohl hinter sich. Es gibt zwar einige, die sich bis heute weigern, die U-Bahn zu benutzen. Aber angesichts des chronischen Dauerstaus, des vielen Regens und der hügeligen Stadt ist das Fahrrad für die meisten keine dauerhafte Alternative. Doch unterschwellig ist bei vielen die Angst noch da. Sie blitzt auf, wenn plötzlich ein Hubschrauber tief über der Innenstadt in der Luft steht. Manche Brüsseler werden unruhig, wenn Menschen mit großen Koffern in die Metro steigen. Zumal, wenn es junge dunkelhäutige Männer sind.
Bei aller Beklemmung, muss man aber wissen: Das Miteinander von Fremden im öffentlichen Leben ist in Brüssel grundsätzlich von mehr menschlicher Wärme geprägt als etwa in Berlin oder anderen Hauptstädten. Es wird mehr gelächelt, es gibt mehr freundliche Gesten. Nicht selten wünschen Fahrgäste beim Aussteigen dem Straßenbahn-Fahrer noch einen schönen Abend. Ein Metro-Fahrer, Mauro Rocca, will beobachtet haben, dass die Freundlichkeit der Brüsseler seit den Anschlägen sogar zugenommen hat. „Mir ist aufgefallen, dass die Menschen uns heute mehr Zeichen der Sympathie entgegenbringen.“
Risse in der Gesellschaft werden größer
Der Soziologe Andrea Rea, Spezialist für die Beziehungen zwischen Ethnien, glaubt dagegen, dass die Anschläge den Trend der Menschen, sich ins Private zurückzuziehen, noch verstärkt haben. Angesichts des Gefühls der Bedrohung durch den Terror handele es sich um eine Überlebensstrategie. „Je größer die subjektive Unsicherheit, desto ausgeprägter ist der Rückzug ins Private“, sagt der Professor von der Freien Universität Brüssel „Le Soir“. Es gibt auch Hinweise, dass die Risse in der ohnehin zwischen Flamen und Wallonen zerklüfteten belgischen Gesellschaft größer werden.
So ging etwa ein Vorfall durch die Presse, bei dem sich ein belgischer Standesbeamter weigerte, eine Trauung zu vollziehen, weil eine muslimische Braut sich ihrerseits geweigert hatte, ihm zuvor die Hand zu geben. Bislang haben die Parteien im Wesentlichen der Versuchung widerstanden, aus den Anschlägen politisch Kapital zu schlagen. Der Rassismus schlägt sich subtiler nieder.
Andererseits unternimmt die Politik auch bislang keine großen Anstrengungen, die Gesellschaft stärker zusammenzubringen. Kürzlich wurden gerade einmal 800.000 Euro bereitgestellt, um das Wir-Gefühl der Belgier zu stärken. Der Soziologe Rea vermisst denn auch das Bekenntnis der Politik zu einer vielfältigen Gesellschaft: „Die politisch Verantwortlichen schweigen.“ Seine Analyse: Sie machten sich mehr Sorgen um ihre Wiederwahl als darum, wie die Gesellschaft in zehn oder zwanzig Jahren aussieht.
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