Pakistan, Sudan, Indien: Barbarische Akte gegen Frauen erschüttern die Welt
Die Steinigung in Pakistan, die Gruppenvergewaltigung in Indien mit anschließendem Erhängen der Opfer, das Todesurteil im Sudan - unfassbare Barbarei wirft die Frage auf, ob die "Bestie Mensch" zivilisatorisch gebändigt werden kann.
Auf einer nächtlichen Party in Berlin Kreuzberg klagte vor einigen Tagen ein Anwalt den übrigen Gästen sein Leid. Der Mann ist Strafrechtler, seit Jahrzehnten Spezialist für schwere Fälle. Doch von denen, sagte er, gebe es weniger und weniger. Kaum noch Morde, seufzte der Mann, weniger Vergewaltigungen, lauter zahme Zeitgenossen ringsumher. Man solle sich mal die Statistik ansehen. "Das war früher anders!" Die Umstehenden staunten und lachten, einige dachten wohl: Schön, dass es so ist.
Wer Steven Pinkers Bestseller "The better Angels of our Nature" gelesen hat, den die "New York Times" 2011 frenetisch feierte, wird vielleicht an dieses Buch gedacht haben. Pinker, Kognitionsforscher an der Fakultät für Psychologie in Harvard, verglich Tausende historischer Daten und Schätzungen zu Gestalt und Rate von Gewalttaten und kam zu dem Schluss, dass die Menschheit aufs Ganze gesehen zunehmend friedlicher geworden ist. Kämpfe zwischen Stammesgesellschaften seien neunmal tödlicher gewesen als die Kriege des 20. Jahrhunderts, im Europa des Mittelalters war es 30-mal wahrscheinlicher, ermordet zu werden, als heute. Sklaverei und grauenvolle Hinrichtungspraktiken waren in den meisten Gesellschaften die Norm und wurden akzeptiert. Folter, Todesstrafe, Kindestötungen, alles das sei rückläufig.
Die Barbarei wütet
Aber allein der Blick in die aktuellen Nachrichten der vergangenen paar Wochen scheint schreiend das Gegenteil zu belegen. Die Barbarei wütet heute. Vom furchtbarsten Krieg der Gegenwart, dem innersyrischen Konflikt, werden täglich neue und viele Tote gemeldet. In der Ukraine herrscht offene Gewalt.
Und dann die Gewalt gegen Frauen. Indien wird eben wieder von einer Gruppenvergewaltigung erschüttert. Die Täter haben die beiden jungen Mädchen nach der Tat erhängt. Im Sudan soll eine Frau hingerichtet werden, weil sie Christin ist. In Pakistan hat ein Vater die Steinigung seiner schwangeren Tochter gerechtfertigt, weil sie eine arrangierte Ehe verweigert hat und eine Liebesheirat eingegangen ist. In Malaysia sollen gestern 28 Männer eine junge Frau vergewaltigt haben.
Noch im Sinn ist auch die EU-Studie vom Mai 2013, wonach jede dritte Frau in der Europäischen Union schon einmal in ihrem Leben Opfer von Gewalt wurde.
Die Tat wütet im Täter weiter
Woran lesen wir da den Fortschritt ab, fragen auch Steven Pinkers Kritiker mit Blick auf die Weltkarte der Gewalttaten, wie sie unter anderem Amnesty International und Human Rights Watch zeichnen? Sie zweifeln seine Statistiken an, die Erhebungsmethoden, die Vergleichsdaten. Vielleicht aber auch das Ziel? Denn Pinkers Erkenntnisse helfen dabei, angesichts der Gewalt nicht daran zu glauben, dass "das Böse" oder "Satan" inhärentes Erbe einer "Bestie Mensch" seien. Vielmehr liegt ihnen die Zuversicht zugrunde, dass die Fähigkeit zu Empathie und sozialem Lernen die menschliche Gesellschaft nachhaltig prägen. Sie sind wirkmächtiger als das Beharren auf dem "Recht" des Stärkeren – das die Bezeichnung Recht ohnehin nicht verdient –, das sich in der enthemmten, spontanen Tat ebenso äußert wie in der institutionalisierten, staatlichen Gewalt.
Wo Gewalt, rohe oder raffinierte, impulsive oder angeordnete, Mittel zur Durchsetzung von Interessen oder Begehren ist, sind bei den Tätern die Mythen brutalisierter, im Kern meist infantil-magische Vorstellungen und wahnhafte Abspaltungen am Werk: "Wenn wir den Feind ermorden, macht er uns keine Probleme mehr." "Wenn ich die Frau vergewaltige, habe ich mir und ihr bewiesen, dass ich gewaltig stark bin."
Zum zivilisatorischen Fortschritt gehört nicht allein die Empathie, das Nachempfinden der Schmerzen des anderen. Fortschritt entstand auch mit der Einsicht, dass die Tat im Täter weiterwütet. Sie hat in Wahrheit nichts vernichtet oder bewiesen, sondern nistet sich in den Nischen der Psyche des Täters ein, der sie begangen und erlebt hat. Eine Ahnung von dieser intrapsychischen Dynamik belegten bereits die Sagen und Legenden von spukenden Rachegeistern und die Fantasie vom Zorn der Götter auf den Urheber einer Untat.
Demokratien führen keine Kriege gegeneinander
Für die symbolische Ordnung des Mythos und der Kulte ist die bewusste Kenntnis dieser intrapsychischen Dynamik bedrohlich. Soll die Welt klar in gute und böse Elemente aufgeteilt werden können, muss es Himmel und Hölle geben, "ewige", ontologisch gesetzte Phänomene. Hier die "Bestie Mensch", dort die göttliche Gegenmacht, hier der in Erbsünde Geborene, dort dessen Erlöser. Wenn es aber wahr ist, was Denker wie Pinker sagen, wäre "das Böse" keine festgezurrte Größe, die als satanisches Prinzip der Gegenspieler Gottes wäre. Dann haben die Begriffe Zivilisation und Fortschritt andere Wirkmacht, und es gehen nicht nur dem eingangs erwähnten Strafverteidiger die mordenden Mandanten aus, sondern auch den Adepten des "Bösen" die Argumente. Womöglich ist Pinker darum so umstritten.
Kaum zu widerlegen ist etwa die Beobachtung des amerikanischen Rechtstheoretikers John Rawls, wonach Demokratien keine Kriege gegen andere Demokratien führen. Wäre das "Böse" eine unveränderliche Größe und der Mensch stets dieselbe Bestie, hätte das große, zivilisatorische Projekt der Demokratie nie eine Chance erhalten, noch weniger ein supranationales demokratisches Projekt wie die Vereinigten Staaten und die Europäische Union. Wo hier jede dritte Frau noch immer Erfahrung mit Gewalt macht, muss daran erinnert werden, dass solche Erfahrung tatsächlich einmal für so gut wie alle Frauen die Norm war.
Ein emotionaler Milieuwandel ist erforderlich
Demokratien sind ununterbrochen im Wandel, im besten, etwa im skandinavischen Fall, demokratisieren sie sich durch permanente Reform selber. Überall, wo in der Gegenwart rohe und mörderische Gewalt ausgeübt wird, ist solche Gewalt gegen Frauen und gegen männliche wie weibliche Kinder noch immer normatives Element – zumindest der Kleingruppen, und vor allem aber in Familien.
Bis sich, auch im Innern von Demokratien – und Indien etwa ist die größte Demokratie der Welt –, jener emotionale Milieuwandel vollzieht, der dem Strafverteidiger die Mandanten nimmt, dauert es mehrere Generationen. Denn die Psyche ist tendenziell ein konservativer Sänger des Leitmotivs: "Schläge haben mir damals auch nicht geschadet!" Sind nicht nur Großgruppen demokratisch verfasst, sondern ist die Demokratie erst bis in die Struktur der Kleingruppe eingesickert, wächst der Fortschritt in der Regel uneinholbar.
In Indien formiert sich eine starke Frauenbewegung
Die heutigen Probleme in der Europäischen Union sind zivilere, als sie es in Europa jemals waren. Der jetzt oft beklagte Unwille, sich der "Barbarei der anderen" zu widmen, hat auch damit zu tun, dass wir in der westlichen Welt der Demokratie nur wenige Generationen von ähnlicher, teils schlimmerer Enthemmung und Barbarei entfernt sind. Man scheint in ein anderes Jahrhundert zu blicken, wenn man nach Indien oder in den Sudan schaut. Man will nicht erinnert werden. Und die Mehrheit spendet lieber für die Opfer einer Naturkatastrophe wie eines Tsunami als für die aus Syrien Geflüchteten. Es ist einfacher, schmerzloser, von den schrecklichen Nachrichten umzuschalten zur Quizshow, als nachzudenken darüber, dass die vermeintlich anderen, bei denen jetzt das "Böse" zu wohnen scheint, Leute sind wie wir. Sie haben dieselben Chancen und werden nach und nach denselben Weg gehen.
In Indien formiert sich derzeit eine starke Frauenbewegung, und neues Rechtsbewusstsein dringt bis in die Dörfer vor. Als die beiden von ihren Vergewaltigern ermordeten Mädchen, Cousinen der Täter, zwölf und 14 Jahre alt, an einem Baum hingen und die indische Polizei im Distrikt Lucknow sich weigerte, der Todesursache nachzugehen, passierte etwas überwältigend Solidarisches. Hunderte Dorfbewohner setzten sich um den Baum herum, bis ihr Ruf nach polizeilicher Ermittlung Erfolg hatte. Auch so fängt Fortschritt an.