Moritz Rinkes Kolumne: Müssen wir Mesut Özil bis in alle Ewigkeit auspfeifen?
In seinem strahlend weißen DFB-Trikot galt Mesut Özil lange als der deutsch-türkische Schönspieler. Bis er sich in den Dreck warf
In meiner Jugend war Schönspieler ein Schimpfwort. Mein Dorftrainer zeigte in der Halbzeit immer auf mein Trikot und pöbelte. Es war unbefleckt, die weiße Hose strahlte, während die anderen alle dreckig waren. Ich hatte in dem Spiel bestimmt gute Akzente gesetzt, trotzdem lagen wir zurück, und weil meine Hose strahlte, war ich schuld.
Wo ist der Dreck, schrie er, wo ist dein Blut und das Blut des Gegners? Ich will dich für unser Land kämpfen sehen!
Ich spiele aber nicht für ein Land, sondern für ein kleines Dorf, entgegnete ich irgendwann, danach konnte ich gleich in der Kabine bleiben, für immer.
Jahrelang habe ich bei Fußballübertragungen auf die Hosen geachtet, einmal sogar bemerkt, wie sich Franz Beckenbauer, der Kaiser, vor dem Pausentee Matsch auf die Hose schmierte, vielleicht hatte er ähnliche Erfahrungen wie ich gemacht.
Später kamen Spieler, die es in meiner Jugend nie gegeben hätte: Andrea Pirlo bei Juventus Turin, Diego bei Werder, Messi, Xavi und Iniesta in Barcelona natürlich, aber eben auch Mesut Özil, meist waren sie alle sauber.
Özil, der deutsch-türkische Schönspieler im strahlend weißen DFB-Trikot, versöhnte mich mit den Dreckreden in der nationalen Dorfkabine.
Plötzlich stand er mit einem bluttriefenden Trikot da
Özil sprach immer wenig, tat sich beim Singen der deutschen Hymne nicht hervor; er betete lieber, spielte einfach nur schön und manchmal so leise, dass die, die ein Spiel nicht lesen konnten, sich fragen mussten, ob Özil überhaupt mitspiele.
Bis zu dem Tag, als sich Özil dann doch in den Dreck warf, indem er sich mit dem türkischen Staatspräsidenten ablichten ließ, zusammen mit seinem Kollegen Gündogan, und mitten in Erdogans Wahlkampf, der mit den morgigen Wahlen in der Türkei zu Ende geht. Özil, der Schönspieler, stand plötzlich mit einem verdreckten und bluttriefenden Trikot da. Und die Deutschen sahen es und begannen zu pfeifen und zu schimpfen.
Viele sind Hin- und Hergerissene zwischen zwei Welten
Es gibt so viele dieser Özils. Migrationskinder mit türkischen Vätern, die in Deutschland lange um Anerkennung kämpfen mussten und nun durch den starken Mann in Ankara Genugtuung empfinden. Migrationskinder, die weder ihre Väter noch ihre Heimat einfach so abschütteln können und im Zweifel ihrer Familie glauben, die von morgens bis abends türkische Sender fernsieht und gar nicht wissen will, was zum Beispiel „Spiegel“, „Anne Will“ oder „Reporter ohne Grenzen“ berichten. Viele solcher Migrationskinder sind eigentlich Hin- und Hergerissene zwischen zwei Welten. Im Falle Özils sind sie, fachlicher gesagt, Zwischenspieler.
Özil hatte bei dem Foto mit dem Präsidenten vermutlich weniger an die Gleichschaltung von Justiz und Behörden gedacht oder an inhaftierte Journalisten, an Korruption oder einen völkerrechtswidrigen Einmarsch in Nordsyrien, sondern allenfalls an seine türkische Oma, vielleicht an ein Foto für sein „osmanisches Zimmer“, das sich Özil in London eingerichtet hat, vielleicht an seinen Vater Mustafa, der sich schon als Spielerberater seines Sohns aufführte, als wäre er ein polternder Autokrat wie jener Präsident, aus dessen Land er stammt.
Das alles ist tragisch, aber es ist kein Grund, den zerrissenen Özil bis in alle Ewigkeit auszupfeifen. Und schon gar nicht, solange Türken mit deutschen Leopard-Panzern erfolgreich durch die Kurdengebiete walzen. Der lange Schatten des türkischen Präsidenten hatte ja schon immer die deutsche Wirtschaft erreicht, aber nun wird er womöglich auch noch das schöne Spiel und die WM beeinflussen.