Deutsch-deutsche Rettungsaktion im Kalten Krieg: MS Müggelsee am Tor der Tränen
1986 beteiligt sich ein DDR-Frachtschiff vor der Küste Jemens an der größten Evakuierungsaktion seit dem Zweiten Weltkrieg. Gerettet werden Ost- und Westdeutsche. Daheim werden Kapitän und Besatzung gefeiert – und schnell vergessen.
Als Kapitän Andreas Neuendorf am 17. Januar 1986 den ostdeutschen Frachter „MS Müggelsee“ in die Bucht von Khormaksar steuert, liegt über der jemenitischen Küste dicker Qualm aus brennenden Öltanks. Auf der schmalen Uferstraße stehen Jeeps, die mit leblosen Körpern beladen sind. Am Strand warten hunderte hilfloser Menschen auf Rettung. Sie können weder vor noch zurück. Im Meer droht der Tod durch Ertrinken, am Strand der durch Maschinengewehre, die aus den Hügeln auf sie gerichtet sind.
Neuendorf ist immer noch erschüttert, als er Jahrzehnte später mitten im Atlantik auf der Brücke des gewaltigen Containerschiffes „MSC Flaminia“ davon berichtet. Das Geschehen vor Aden hat den heute 68-Jährigen geprägt. Ohne seinen Einsatz bei der folgenden größten Seeevakuierung nach dem Zweiten Weltkrieg und der einzigen unter Beteiligung eines deutschen Schiffes wäre sein Leben anders verlaufen.
Damals in Aden will Neuendorf helfen. Er hat jedoch keine Genehmigung, sich der Küste zu nähern. Weder von seiner Reederei in Rostock, für die er zwischen Westeuropa und Ostafrika unterwegs ist und „alles transportiert, was in Kisten passt“, noch von den Jemeniten. Versuche, mit der Botschaft der DDR in Aden Kontakt aufzunehmen, scheitern. Er muss vor dem Hafen warten.
Neben einem sowjetischen Frachter, der „MS Skulptur Klupkina“, findet er einen geeigneten Platz. Noch während der Anker Halt sucht, legt sich ein mit 40 Personen voll besetztes Rettungsboot des sowjetischen Frachters an seine Seite. Über die schwankende Gangway erklimmen die Insassen die steilen Stufen an Bord des grauen 7500-Tonners mit weißen Aufbauten: Es sind Angehörige der DDR-Botschaft, hauptsächlich Frauen und Kinder, angeführt von der Ehefrau des Geschäftsträgers, Irene Krauße.
Eine sowjetische Korvette schießt zurück
Durchnässt und erschöpft berichtet sie, dass in Aden ein blutiger Bürgerkrieg tobe. Der Generalsekretär der Jemenitischen Sozialistischen Partei, Ali Nasser Mohammed, habe seine Gegner in der Partei vier Tage zuvor, am 13. Januar 1986, ermorden lassen. Daraufhin hätten sich deren Anhänger erhoben und bekämpften Ali Nasser. Die Ausländer hätten sich in sichere Häuser flüchten müssen und erst jetzt, nach drei bangen Nächten, während eines von der Sowjetunion vermittelten temporären Waffenstillstandes, gelang die Evakuierung.
Die Müggelsee lässt ihre beiden Rettungsboote zu Wasser. Mehrmals tuckern sie an den Strand von Khormaksar, um so viele Menschen wie möglich zu retten. Einmal werden sie mit Leuchtspurmunition aus den Bergen beschossen, doch eine sowjetische Korvette, die sich zwischen die Rettungsschiffe und die Küste gelegt hat, feuert zurück und stoppt jeden weiteren Angriff. Hilfe kommt auch von der „HMY Britannia“, der Königlichen Yacht, die zufällig das Rote Meer durchkreuzt. Sie beteiligt sich an der Evakuierung und bringt hunderte von Menschen auf ihren geräumigen Decks in Sicherheit.
Gegen Mitternacht wird der Strand von Panzern der Aufständischen gesperrt. Rücksichtslos beenden sie den Waffenstillstand, überrollen das am Strand gelagerte Gepäck und treiben die noch auf ihre Rettung wartenden Ausländer so brutal in die Flucht, dass sie sich zum Teil nur auf allen Vieren retten können. Die Aktion muss beendet werden.
Immer noch kein Kontakt zur Botschaft
Die Müggelsee hat jedoch bereits 126 Menschen aufgenommen, die dicht gedrängt untergebracht werden. Eigentlich ist der Frachter nur für maximal 35 Besatzungsmitglieder ausgelegt, doch trotz der Enge sind die Geretteten glücklich. Die Müggelsee, so schreibt Krauße später an den Kapitän, „war für uns ein Stück Heimat, wir fühlten uns sofort geborgen und sicher ... Ob in den Kajüten, ob im Sportraum, ob im Essenssaal – überall wurde für uns gesorgt.“
Bis zum Nachmittag des folgenden Tages bleibt Neuendorf vor Aden, um mit weiteren Rettungsschiffen, die inzwischen herbeigeeilt sind – britischen, französischen und sowjetischen – an verschiedenen Strandabschnitten Menschen in Sicherheit zu bringen. Er tut dies ohne explizite Weisung, da er weiterhin keinen Kontakt zur DDR-Botschaft herstellen kann, doch meldet er seine Teilnahme an den Rettungsmaßnahmen der Deutschen Seereederei Rostock (DSR). Am Nachmittag bekommt er von dort die Order, den anderen Rettungsschiffen auf dem Meer zu folgen. Er überquert Bab al Mandab, das „Tor der Tränen“, wie die Meeresstraße zwischen Asien und Afrika auf Arabisch heißt, und läuft am nächsten Morgen mit den anderen Schiffen im französischen Marinestützpunkt in Dschibuti ein. Von dort werden die geretteten DDR-Bürger, insgesamt 110 Menschen, sofort nach Schönefeld ausgeflogen. Die erste Runde der Evakuierung ist erfolgreich abgeschlossen.
Der Auftrag: Auch Westdeutschen helfen
Noch aber harren weitere Ausländer, darunter Deutsche aus West und Ost, im Inneren Südjemens aus. Um auch sie zu retten, überquert Neuendorf ein zweites Mal den Bab al Mandab. Inzwischen hat er Instruktionen seiner Reederei. Offenbar weil die zweite Aktion unter dem Schutz der Vereinten Nationen steht, soll er nun auch offiziell an der Evakuierung mitwirken. Die DSR weist ihn an, den Bewegungen der sowjetischen Schiffe zu folgen und an deren Aktionen teilzunehmen. Auch die Botschaft der DDR nimmt jetzt Kontakt auf und – einer Bitte des Auswärtigen Amtes folgend – beauftragt ihn, außer Bürgern der DDR und der sozialistischen Länder auch Westdeutschen und Westeuropäern zu helfen.
Für alle Beteiligten ist dies eine delikate Situation, denn schließlich herrscht immer noch Kalter Krieg. Zwar sind Bonn und Ost-Berlin keine Feinde, aber doch ideologische Gegner. Man kommuniziert nicht wie zwischen Angehörigen einer Nation, sondern wie zwischen Staaten, das heißt vom Bonner Auswärtigen Amt (AA) über die Ständige Vertretung in Ost-Berlin mit dem Ost-Berliner Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten (MfAA) oder wie in Aden von Botschaft zu Botschaft. Zum Glück sind die damaligen Geschäftsträger in Aden, Volker Stanzel für die Bundesrepublik und Werner Krauße für die DDR, miteinander befreundet. Das erleichterte vieles.
Wegen der fortdauernden Kämpfe kann auch die zweite Evakuierung nicht im Hafen von Aden durchgeführt werden. Erst zwei Tage später vor Little Aden, etwa 20 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, gelingt wieder eine Rettungsaktion. Da die Kämpfe abebben, fährt die Botschaft der DDR alle Personen in ihrer Obhut an den Küstenabschnitt, vor dem die Müggelsee wartet. Bei ruhiger See gelingt es, einen Großteil der in Aden verbliebenen Ausländer sicher in Rettungsboote und von dort an Bord zu bringen. Doch warten noch weitere DDR-Bürger, insbesondere die Familien einer FDJ-Gruppe, einer Baubrigade und einer Gruppe von Geologen im benachbarten Gouvernement Abyan.
Das Rettungsboot kommt nicht ans Ufer
Krauße bittet den Kapitän, auch sie zu evakuieren. So tastet sich Neuendorf noch in der Nacht weiter die Küste entlang an Al Kud heran, gut 30 Seemeilen von Aden entfernt. Zwar steht die Aktion vor Al Kud unter dem Schutz des einheimischen Gouverneurs und bewaffneter jemenitischer Kräfte, die zu den neuen Machthabern stehen, doch ist das Meer rau, hohe Wellen peitschen gegen das Schiff, eine Sandbank blockiert den Zugang zum Strand.
Das kleine Rettungsboot kommt nicht bis ans Ufer. Die Flüchtlinge müssen sich anhand eines Seils, das zwischen den Rettern und einem LKW der Baubrigade gespannt wird, zum Boot hangeln, bevor die Flut kommt. Nach äußerst unruhiger Fahrt, bei der viele seekrank werden, gelangen die Passagiere sicher zur Müggelsee. Deren Fangleinen ziehen das Boot an Deck. Die Mannschaft hat das oft geprobt, erzählt Neuendorf. In Afrika wurde viel auf offenen Reedeplätzen verladen.
Mit 74 DDR-Bürgern und 70 Geretteten aus weiteren neun Staaten – der Tschechoslowakei, Westdeutschland, Pakistan, Jordanien, Syrien, Sri Lanka, Indien, Algerien und dem Irak – pendelt die Müggelsee erneut nach Dschibuti. Als sie dort am 24. Januar ankommt, hat der Frachter insgesamt etwa 300 Menschen gerettet – doch nicht alle sind zufrieden.
Einer der im Jemen tätigen DDR-Professoren beschwört den Kalten Krieg. Kaum an Bord, erinnert der Genosse Professor den Genossen Kapitän daran, dass auch „Bürger aus dem NSW“ an Bord seien, im Klartext: Deutsche aus dem Nicht-Sozialistischen Wirtschaftsgebiet. Von denen möchte er sich distanzieren. Neuendorf reagiert kühl. Er weiß, dass viele DDR-Bürger offiziell zur Berichterstattung über Westkontakte verpflichtet sind. Innerlich aber ist er empört.
Die Stasi setzt den Kapitän unter Druck
Als die Müggelsee Mitte März 1986 nach Rostock zurückkehrt, werden der Besatzung zunächst hohe Ehrungen zuteil. Für ihre „außerordentliche Einsatzbereitschaft“ erhalten der Kapitän und die Offiziere Verdienstmedaillen der Seeverkehrswirtschaft in Gold und Silber. Die Mitglieder der Deck- und der Maschinencrew werden als „Aktivisten der sozialistischen Arbeit“ oder mit der „Artur-Becker-Medaille“, einer Auszeichnung der FDJ für hervorragende Leistungen im Jugendverband, geehrt. „Voll Voraus“, das „Organ der Kreisleitung der SED Seeverkehr und Hafenwirtschaft“ lobt die Mannschaft am 31. März 1986: „Alle Besatzungsmitglieder haben durch ihr bewusstes Auftreten als Bürger unseres Staates das politische Ansehen der DDR im Ausland gestärkt.“ Es unterstreicht, „dass proletarischer Internationalismus und aktive Solidarität wesentliche Eigenschaften unserer Handelsflotte sind“.
Doch schnell weicht der Stolz auf die „Helden von Aden“ der Skepsis gegenüber dem ganzen Unternehmen. Dass der Generalsekretär der Jemenitischen Sozialistischen Partei, ein enger Freund Honeckers, durch einen Putsch von Parteifreunden aus dem Amt gejagt wurde, passt nicht in das Bild eines Sozialismus, der doch für eine solidarische Gesellschaft stehen soll. Auch eine erfolgreiche Evakuierung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der DDR der politische Kontext eher peinlich ist. Ein blutiger Bürgerkrieg zwischen sozialistischen Gruppen? Eine Gemeinschaftsaktion von West und Ost zur Rettung von Ausländern ohne Ansehen von Blockzugehörigkeit? Das kann und darf nicht sein.
Der Kapitän darf nicht mehr zur See fahren
Hinzu kommt eine wachsende Skepsis gegenüber dem Kapitän. Schon Monate vor der Ausreise nach Aden war er aufgefordert worden, stärker mit der Staatssicherheit zusammenzuarbeiten. Während seines gesamten Einsatzes vor Aden ist ihm bewusst, dass er unter politischer Bewährung steht. Wehe, er verhält sich falsch. Nach seiner Rückkehr verstärkt die Staatssicherheit den Druck. Als Kapitän habe er Partei und Staat nicht nur seemännisch, sondern auch politisch zu dienen. Für das Privileg, weiter ins Ausland reisen zu können, müsse er sich endlich als Informeller Mitarbeiter der Stasi verpflichten.
Obwohl Gorbatschow in Moskau bereits eine Politik der Entspannung und damit der ideologischen Lockerung verfolgt, macht die DDR diese Wende nicht mit. Sie lockt den Kapitän („Du kannst groß herauskommen, wenn Du jetzt unterzeichnest“) und droht ihm zugleich: eine Handelsmarine, die dem proletarischen Internationalismus diene und ein Kapitän, der sich weigere, für die Sicherheit des Staates zu arbeiten, das gehe nicht zusammen. Als Neuendorf es trotzdem ablehnt, eine Verpflichtung zu unterzeichnen, treten die ihm angedrohten Konsequenzen ein: Er darf nicht mehr zur See fahren, seine Kinder dürfen nicht studieren.
Die Aktion wird aus der Geschichte gestrichen
Mit dem Kapitän wird die ganze Aktion faktisch aus der Geschichte gestrichen. Die Ingenieurhochschule für Seefahrt Warnemünde/Wustrow, an der die DDR bis 1990 ihre zivilen Schiffsoffiziere ausbildet, hat den Ablauf der Evakuierung nie ausgewertet. Sie war keine „sozialistische Tat“, sagt Kapitän Neuendorf. Er klingt ein wenig bitter.
Am Beginn der von Gorbatschow initiierten letzten Phase der Entspannung demonstriert sie ein neues Zusammenwirken von Ost und West, von den drei Globalmächten Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich, die mit ihren Schiffen insgesamt 5000 Ausländer retten, aber auch im Krisenmanagement zwischen den beiden deutschen Staaten, das durchaus schon wie ein Vorbote des Wandels von der Konfrontation zur Kooperation erscheint. Die Britannia evakuiert Ostdeutsche, die Müggelsee Westdeutsche, alle Rettungsschiffe nehmen Menschen ungeachtet ihrer politischen Zugehörigkeit an Bord. Angesichts des Bürgerkriegs im Jemen rücken Ost und West erstmals zusammen.
Kapitän Neuendorf kann erst nach der Wiedervereinigung der deutschen Staaten wieder zur See fahren. Als Kapitän der Niederelbe Schifffahrtsgesellschaft in Buxtehude führte er weit größere Frachtschiffe als die Müggelsee über die Ozeane der Welt. An Evakuierungen brauchte er sich jedoch nicht mehr zu beteiligen. Als auf der „MSC Flaminia“ im Sommer 2012 mitten im Atlantik ein Feuer ausbrach und heftige Explosionen das riesige Containerschiff so sehr zerstörten, dass die gesamte Besatzung evakuiert werden musste, war er nicht mehr der Kapitän. Inzwischen ist er pensioniert. Die See hat ihn trotzdem nicht losgelassen. Heute lebt der immer noch hünenhafte Mann in Sachsen-Anhalt und baut an einem kleinen Stahlboot.