Interview mit Netzexpertin Kathrin Passig: "Meistens brauche ich eine halbe Stunde pro Tweet"
Ihr Tweet zum Suizid des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf hat viele verstört. Mit dem Tagesspiegel sprach Kathrin Passig über das Twitter-Phänomen #aufschrei, Boris Beckers Netzpubertät und Phantom-Vibrationen.
Kathrin Passig, 43, Netzexpertin und Autorin, gewann sowohl den Grimme- als auch den Bachmannpreis. Mit Sascha Lobo schrieb sie das Prokrastinationsbuch „Dinge geregelt kriegen ohne einen Funken Selbstdisziplin“, nun erscheint „Weniger schlecht programmieren“ (mit Johannes Jander)
Frau Passig, dank Twitter wissen wir einiges über Sie: Im März haben Sie Ihre Dielen abgeschliffen, bei Ihnen wurde eingebrochen, im September wählten Sie die Piraten und tranken insgesamt ziemlich viel Bier.
Das war vielleicht eine Schutzbehauptung, um mich nachträglich durch Betrunkenheitsvortäuschung zu rechtfertigen. Tatsächlich trinke ich aberwitzig wenig Bier. Ich hoffe, dass ich bald zu einem interessanteren Twitter-Benehmen zurückfinde.
27 000 Menschen wollen wissen, was Sie schreiben. Sie selbst folgen nur 542.
Als ich 2008 zu twittern begann, hab’ ich bei den Followern gleich nachgeschaut, ob es sich lohnt, ihnen zurückzufolgen. Das ging bald nicht mehr, der Zeitaufwand wurde einfach zu groß.
Das reine Follower-Prinzip ist seit sieben Jahren der Kern von Twitter.
Im Nachhinein wirkt das trivial. Ich glaube, bei dem Schriftsteller Douglas Adams heißt es an einer Stelle, dass eine gute Erfindung im Rückblick immer trivial aussieht. Wie die Katzenklappe in der Tür, die hätte jeder erfinden können! Twitter hat einen Transmissionsriemen gebildet, das Netz vernetzt. Vorher hat man gemerkt, dass manche Dinge wahnsinnig mühsam sind, ohne dass man genau hätte benennen können, was fehlt.
Wann reicht es Ihnen und Sie hören auf, jemandem zu folgen?
Es gibt ein Phänomen, ich habe es den Decloaking-Tweet genannt. Wie bei Raumschiffen, die ihre Tarnung fallen lassen, schreibt jemand einen spektakulär doofen Tweet. Dann schaue ich, ob das vielleicht schon länger so geht. Meist ist es so.
Können Sie uns ein Beispiel nennen für einen solchen Tweet?
Mich stört weniger Inhaltliches als Dinge, die auf einer Meta-Ebene blöd sind. Klassisch: wenn Leute sich auf eine Weise über Nazis empören, die ihrerseits faschistisch ist. „Nazis an die Wand stellen.“
Die Eskalationsbereitschaft ist im Netz generell größer, die Hemmschwelle geringer.
Bin mir nicht sicher, ob das wirklich ein Netzphänomen ist. Ich glaube eher, das Netz macht sichtbar, was Leute vorher genauso gedacht haben. Bei Twitter können Meinung und Verhalten nicht auf das spezielle Publikum zugeschnitten werden, mit dem man in der Kneipe sitzt und bei dem man sich auf Zustimmung verlassen kann. Facebook und Twitter bilden eine halb private, halb öffentliche Welt – da muss man erst einen Umgang damit finden, was passiert, wenn man Dinge übereinander herausfindet, die man bisher nicht wusste.
Wie oft am Tag laden Sie Ihre Timeline?
Früher hätte ich gesagt, einmal täglich. Nämlich immer. Heute, mehr oder weniger, zehnmal.
Gab es eine Zeit, in der Sie an Twitter gezweifelt haben?
Ja, als Google+ losging. Da hab’ ich länger mit Twitter nichts mehr am Hut gehabt.
Das muss ja wie Schluss machen gewesen sein!
Eher wie eine Affäre haben. Irgendwann denkt man sich, ach, der andere war doch auch super. Man müsste mal wieder mehr Zeit mit ihm verbringen.
"Meistens brauche ich eine halbe Stunde pro Tweet"
Dieses Jahr zitierten sogar die „Tagesthemen“ vermehrt aus Tweets.
Ich bin froh, dass das eine intelligentere Form angenommen hat als „Wie Nutzer Schmusekatze666 bei Twitter sagt“! Das belegt halt nichts. Zum Glück ist die Welt etwas besser geworden. Trotzdem gibt es in Deutschland nur wenige Millionen Twitter-Nutzer, was sehr überschaubar ist.
Wie kommt das?
Jeder, der zum ersten Mal auf die Website geht, sieht eine Flut von wirrem Zeug. Mir ging es mit Pinterest so. Wie die schlimmsten Seiten einer Frauenzeitschrift! Da wurde mir klar: Das ist dieselbe Dummheit, die ich bei anderen kritisiere. Man muss sich hinsetzen und damit beschäftigen.
Monika Herrmann, Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, beantwortete so gut wie jeden Tweet, auch beleidigende. Wer das letzte Wort hat, der hat gewonnen?
Sascha Lobo hat vor zwei Jahren auf der Web-Konferenz re:publica einen Vortrag über den Umgang mit aggressiven Trollen gehalten. 99 Prozent soll man von sich abperlen lassen.
Sind Sie gut darin, Unruhestifter zu ignorieren?
Ich habe mich in den 90ern, wie jeder im Zuge seiner Internetsozialisation, in Flame Wars verstricken lassen. Das ist etwas aus der Mode gekommen, weil die meisten jetzt im Internet mehr zu Hause sind und wissen: Am besten überhaupt nicht reagieren, das ist für den anderen am ärgerlichsten.
Warum machen Sie eigentlich keine Rechtschreibfehler in Ihren Tweets wie jeder andere auch?
Wenn ich mich vertippe, hole ich zurück. Meistens brauche ich eine halbe Stunde pro Tweet, das kathartische Scheintwittern nicht mitgerechnet.
Bitte was?
Kennen Sie das? Ich sitze in einer Veranstaltung, die ich blöd finde, schreibe viel darüber, lösche es. Weil das Hinschreiben kathartisch genug ist.
Sie könnten einen Notizblock zur Hand nehmen.
Nein. Wenn Veröffentlichung droht, ist die Motivationslage eine ganz andere.
Am 8. Juni twitterten Sie: „233 Tweets über die Unbegreiflichkeit von Interlaken verfasst und wieder gelöscht, Kapitulation und Abreise.“
Ich habe lange versucht, etwas über Interlaken zu sagen. Erst als ich im Zug war, habe ich getwittert.
Katharsis bedeutet: Es geht Ihnen nach dem Scheintwittern besser. Doch es ist unbefriedigend, einen Text vor der Veröffentlichung zu löschen.
Muss nicht sein. Ich finde es sogar etwas besser.
Dabei ist spontanes Lästern wichtig bei Twitter.
Das finde ich unsympathisch. Ein bisschen ist das so, wie man sich über Mitreisende im Großraumwagen aufregt. Damit möchte man deren Verhalten ändern, statt zu versuchen, den eigenen Kopf zu beeinflussen – was viel erfolgversprechender wäre. Es ist meine Aufgabe, tief durchzuatmen: Jeder auf seine Art, auch wenn das den Verzehr hart gekochter Eier beinhaltet. Es geht nicht, Urbanität zu fordern und gleichzeitig zu verlangen, dass die anderen sich den eigenen Lebensvorstellungen fügen.
Wir wundern uns, dass Sie sich nicht an der #aufschrei-Debatte beteiligt haben. Stattdessen twitterten Sie: „Schicke mich im Traum gerade an, alle 80000 #aufschrei-erinnen in alphabetischer Reihenfolge zu beschimpfen, da klingelte das Telefon.“
Mir war das Schlagwort zu opferhaft. Ich dachte, ich hätte dazu nichts beizutragen. Dann fiel mir doch einiges ein. Ich hatte das nur zwischen geringfügigem Ärgernis und unterhaltsamem Zwischenfall verbucht. Man kann das so deuten, dass ich vom Patriarchat gehirngewaschen bin. Man kann es aber auch mit Epiktet interpretieren: „Es sind nicht die Dinge selbst, die uns bewegen, sondern die Ansichten, die wir von ihnen haben.“ Ganz abgesehen davon, dass ich mich nicht aus dem Fenster lehnen kann, weil ich selbst zu viele Menschen sexuell belästigt habe. Ich habe schon öfter davon profitiert, eine Frau zu sein – und in dem Moment, wo es zu den eigenen Ungunsten ausschlägt, soll ich „Aufschrei“ rufen?
Durch #aufschrei haben viele Deutsche von Twitter erfahren. Die Erfinderin Anne Wizorek, eine Bloggerin, wurde zur Figur des Neuen Feminismus.
Das Grundprinzip ist interessant. Seit seinen Anfangszeiten tut das Netz genau das: Es belegt, dass Phänomene, die bisher als Einzelfälle galten, im Prinzip schon Alltag und Norm sind.
Welcher Tweet beeindruckte Sie 2013 am meisten?
Der stammt von @dickebuerste53: „Wenn Wasser einfach nicht trocknen würde. Wie durchweg scheußlich unser Leben dann wäre!“
"Bis 1994 habe ich mich sehr gelangweilt"
Uns hat Ihr Tweet zum Tod Ihres guten Freundes Wolfgang Herrndorf sehr berührt.
Wolfgang war’s wichtig, dass es nicht in allen Nachrufen heißt, er sei dem Krebs erlegen. Das hätte sofort in seinem Blog stehen müssen, oder im Wikipedia-Eintrag. Sein Blog war überlastet, und den Wikipedia-Eintrag dürfen nur schon länger angemeldete Nutzer bearbeiten. Im engeren Kreis haben wir in einem Chat überlegt, was jetzt zu tun ist, und ich dachte: Na gut, dann halt Twitter. So werden diese Informationen schnell und breit gestreut.
Daran gab es viel Kritik.
Ja, einerseits gilt Twitter vielen als frivol und unseriös – ein alberner Vorwurf, Twitter ist ja nicht dem Veröffentlichen von Katzenscherzen vorbehalten. Andererseits beschwerten sich manche, der Tweet sei zu detailreich gewesen: „Aber der Werther-Effekt!“ Da hätte Wolfgang zwar nur drüber gelacht und gesagt: „Die sollen erst mal sehen, wo die ’ne Waffe herkriegen.“ Aber wenn ich gewusst hätte, dass es tatsächlich eine Übereinkunft unter Journalisten gibt, bei Suiziden Ort und Todesart nicht zu nennen, hätte ich das auch nicht getan. Die Details waren ja nicht so wichtig.
„Unverbindlicher Vorschlag: Etwas weniger über den Werther-Effekt nachdenken, etwas mehr über Sterbehilfe in Deutschland.“ So etwas schreibt man, wenn man aufgebracht ist.
Das stimmt, ich fand das in diesem Moment etwas herzlos. Wolfgang wäre lieber anders gestorben als so. Aber das geht halt in Deutschland nicht.
Haben Sie mal drüber nachgedacht, was Sie durch das Lesen der Tweets im wahren Leben verpassen?
Manchmal sagen Veranstalter: Wir haben kein W-Lan eingerichtet, weil wir nicht wollen, dass die Leute im Netz rumhängen. Ich sag’: Die Leute, die hier anwesend sind, sind vielleicht ein bisschen abwesender. Doch die Leute, die abwesend sind, sind dafür anwesender!
Der Schauspieler Lars Eidinger hat gesagt: „Wenn ich auf der Bühne den Hamlet gebe und sehe die von unten blau beleuchteten Gesichter, dann stell’ ich mich vor den Typen, bis der das Handy weglegt.“
Ich find’ das falsch. Es gibt unterschiedliche Arten, eine Situation zu würdigen. Manche klagen darüber, dass Menschen die Landschaft gar nicht mehr so wertschätzen können, sondern sofort ein Foto machen müssen. Das ist, denke ich, eine gleichberechtigte Form, sich zu erfreuen. Manchmal sehen Dinge toller aus, wenn ein Rahmen drum ist.
Susan Sontag fand: Wer viele Fotos von den Dingen macht, der braucht eine Zwischeninstanz, der hält das nicht aus.
Kann man so sehen, muss man aber nicht. Auch die Landschaftswertschätzung ohne Fotomachen ist keine so natürliche Haltung, wie das auf den ersten Blick aussieht. Die musste auch erst erfunden und eingeübt werden. Mit Fotografie ist das nicht anders. Die Tatsache, dass da jetzt ein Gerät im Spiel ist, ist nicht der wesentliche Unterschied. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass der Mensch im Theater dadurch, dass er sich fragt „Kann ich das mit meinen Freunden teilen?“, tatsächlich mehr mitkriegt. Das ist quasi das Ausdehnen des Vergnügens.
Wann hat Ihnen zum letzten Mal einer gesagt: Jetzt lass doch das Gerät und trink mal einen Tee?
Ich kenne eigentlich fast nur Leute, die noch mehr in ihr Handy gucken als ich. Wenn ich mit Leuten zusammen bin, die das nicht tun, reiße ich mich ohne Ermahnung zusammen und twittere nur auf dem Klo. Ich fürchte, dass das bei aufmerksamen Menschen dazu führt, dass sie mich entweder für eine Bulimikerin oder blasenkrank halten.
Haben Sie ein Problem mit Langeweile?
Ich hab mich sehr, sehr gelangweilt. Bis ziemlich genau zu dem Zeitpunkt, an dem es das Netz auch außerhalb der Unis gab. Also 1994.
Sie sind Expertin für Prokrastination: Für’s Aufschieben von Dingen ist das Netz die perfekte Umgebung. Nirgendwo kommt man schneller vom Hundertsten ins Tausendste.
Im Prokrastinationsbuch zitiere ich einen, der sich in eine Hütte zurückzieht, um arbeiten zu können. Das funktioniert zwei Tage, dann spielt er Minesweeper, das geht auch ohne Netz. Der Prokrastinationswille bricht sich immer Bahn.
Müssen Sie Ihr Gehirn manchmal neu laden, um frischen Input aufnehmen zu können?
Tendenziell denke ich zu wenig nach, höchstens unter der Dusche. Ich habe immer schon zu viel gelesen und zu wenig nachgedacht. Ganz ehrlich, wer denkt beim Warten auf die U-Bahn Interessantes? „Noch 3 Minuten, 2 … nachher die Milch nicht vergessen.“ Stattdessen schaue ich ins Handy und staubsauge die Welt nach Informationsschnipseln. Ist natürlich nicht unproblematisch, diese überschießende Begeisterung für’s nächste große Ding.
Haben Sie eigentlich körperliche Symptome von der Handybenutzung, etwa ein Karpaltunnelsyndrom?
Phantom-Vibrationsalarm in der Tasche hatte ich eine Zeit lang.
Christopher Lauer, der Piraten-Politiker, hat dieses Jahr groß angekündigt, dass er bei Twitter aussteigt. Kurze Zeit später war er wieder da.
Je Türenknall, desto Wiederkomm.
Ist Twitter für Sie virtuelle Fessel oder Peitsche?
Fessel, würde ich sagen. Weil es gerade dadurch, dass es ganz enge Beschränkungen mit sich bringt, neue Möglichkeiten und Freiheiten eröffnet.
Angenommen, Boris Becker würde Sie anrufen: „Frau Passig, helfen Sie mir, mich zu beherrschen! Ich twittere mich um Kopf und Kragen!“
Das ist die Internetpubertät, da muss jeder durch. Ich bin froh, dass meine keiner mitbekommen hat. Ich hab’ getrollt in so einem von Marlboro gesponserten Chatsystem, was in den 90ern in Kneipen herumstand – und hab mich gefreut, wenn sie mich ganz schnell wieder rausgeschmissen haben.
Was haben Sie geschrieben?
Es wird schon was mit Kinderpornografie und Hakenkreuzen gewesen sein.
Die längste Zeit, in der Sie 2013 nicht online waren?
48 Stunden? Da war ich mit meinem Freund in den schottischen Highlands wandern. Ich hatte zwar mein Handy dabei, musste aber den Akku schonen. Vielleicht muss man ja doch irgendwann die Bergwacht anrufen. Schade, ab und zu hätte ich gerne Updates vom Berg getwittert.
Wollen Sie wissen, welche der Tagesspiegel-Redakteure auf Twitter vertreten sind? Schauen Sie hier nach.
Esther Kogelboom, Sebastian Leber
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