"Anne Will"-Talk über Zuwanderung: Zwischen Zuversicht und Überflutungsangst
Fachkräfte werden in Deutschland verzweifelt gesucht. Löst Zuwanderung das Problem? Diese Frage stellte Anne Will ihren Gästen.
Die Europäer, diese monströsen Migranten, eroberten die Welt einst mit Waffen. Jetzt tun sie so, als wolle die Welt Europa ebenso heimsuchen. Das ist falsch. Die Migranten des 21. Jahrhunderts kommen ohne Waffen nach Europa, sie kommen stattdessen mit dem Willen zum Glück, sie suchen ihre Zukunft. Daher kam diese Talkshow vor dem europäischen Angstgemälde der Überfremdung und „Überflutung“ gerade recht, denn sie widerstand dem Bild der „Flüchtlingswelle“ und bot stattdessen an, einzelne Biografien und Schicksale beispielhaft zu betrachten.
Es war eine gute Idee der Redaktion, die Friseurmeisterin Jutta Brändle aus Winnenden einzuladen, die sechs Angestellte hat, alle mit „Migrationshintergrund“. Dazu gehört auch Anthony Olushola Oyewinle, ein mittlerweile abgelehnter Asylbewerber aus Nigeria, den sie ausgebildet hat und nun weiter beschäftigt.
Man sollte endlich mal ein Einwanderungsgesetz haben. Dann kann man spezifizieren, welche Menschen mit welchen Qualifikationen gebraucht werden und diese ermutigen, sich in Deutschland zu bewerben und dann auch hierherzuziehen.
schreibt NutzerIn lionfood
Anne Will begann ihre Sendung also mit Frau Brändle, die eindrucksvoll von ihrem Engagement berichtete, von den Hürden, die ihr Staat und Bürokratie in den Weg legen und von der Fleiß- und Einsatzbereitschaft ihrer afrikanischen Lehrlinge. Ihr Team sei mittlerweile eine richtige Familie geworden, weil alle einander helfen müssten, um die Hürden gemeinsam zu meistern. Auch deshalb seien der Zusammenhalt und die Stimmung in ihrem Salon besser als früher, als ausschließlich Einheimische beschäftigt wurden.
Jenseits aller Multi-Kulti-Ideologie öffnete der Blick in diesen Salon die Perspektive in eine Arbeits- und Lebenswelt, die bunter und multikultureller sein wird, sein muss, schon aus demographischen Gründen, denn jedes Jahr verliert der hiesige Arbeitsmarkt mehr als 300.000 Arbeitskräfte; im Juli 2017 waren 800.000 offene Stellen unbesetzt.
Wunsch nach umfassendem Einwanderungsgesetz
Damit war man beim Thema der Sendung, dem Eckpunktepapier zum Einwanderungsgesetz, das der Bundesinnenminister Seehofer gerade vorgelegt hat. Offensichtlich enthysterisiert es die Debatte um Migration und Flüchtlinge, auch wenn es nicht der „große Wurf“ ist, wie es sich der arbeitsmarktpolitische Sprecher der FDP Johannes Vogel gewünscht hätte.
Der phonstarke FDP-Mann wünschte sich vielmehr ein umfassenderes Einwanderungsgesetz, mit dem man im globalen „Wettkampf um die Talente“ bestehen könne. Manuela Schwesig (SPD) konnte sich den Seitenhieb nicht verkneifen, dass sie so viel Eloquenz auch gerne in der Regierungsverantwortung gesehen hätte.
Es blieb bei diesen kleinen Scharmützeln. Einig waren sich eigentlich alle, dass es weiter Zuwanderung braucht, um den Fachkräftemangel zu lösen; Uneinigkeit bestand darüber, ob jemand wie Frau Brändles Musterazubi Anthony, Tony, bleiben darf.
Betroffene wünschen sich „Spurwechsel“
Tony, der im Publikum saß und selbst zu Wort kam, beklagte Ungewissheit, er habe Angst, plötzlich abgeschoben zu werden. Die Frisörmeisterin wünschte sich daher den sogenannten „Spurwechsel“, den Wechsel von einem Asylgesuch zu einem Einwanderungsantrag.
Dagegen wandte sich Volker Bouffier (CDU), weil die Botschaft an die Welt verheerend wäre und zu einer „neuen ungesteuerten Einwanderungswelle“ führen würde, der „Spurwechsel also als Pull-Faktor. Anne Will wandte sich hier wie anderen Stellen gegen das Wort „Welle“, es seien eben Menschen, die kämen. Dieses sanfte Beharren war wichtig. Das war gut. Das war öffentlich-rechtliche Bewusstseinsbildung.
Auch der FDP-Mann wollte für Tony eine Chance. Zu Bouffier gewandt sagte er: „Wenn Sie den Spurwechsel nicht wollen, schmeißen sie diejenigen durch die Hintertür wieder raus, die sie durch die Vordertür einladen.“ Auch Frau Brändle wusste zu berichten, wie demotivierend es sei, wenn man Angela Merkels Parole „Wir schaffen das!“ ernst nehme, dann aber eine integrationsbereite Gesellschaft daran hindere, Integrationskraft zu beweisen.
Die Überflutungsangst der Christdemokraten
Irgendwie wollte wohl auch der Unternehmer Arndt Günter Kirchhoff, dass Tony bleibt, aber das Verfahren wusste er nicht genau zu benennen. Er liebte Unwörter wie „human resources“. Er wolle auf jeden Fall eine „messerscharfe“ Trennung zwischen Migration und Asyl. Auch Bouffier wandte sich gegen „Vermischung“ und „Vermengung“. Da steckte dem Christdemokraten offenbar eine gewaltige Kuddelmuddel- und Überflutungsangst im Leib. Über Tony und seinen Fall könne man reden, aber der „Spurwechsel“ dürfe auf keinen Fall so heißen, weil sonst die ganze Welt auf dumme Gedanken, nämlich nach Deutschland kommen könnte. So ein Problem sah Schwesig nicht, man könne das Thema leicht mit einem Stichtag abräumen.
Überhaupt war der Unterton der Debatte interessant. Die drei Männer in der Runde, deutsche Männer zweifelsfrei, überboten sich in Ordnungs- und Steuerungsphantasien. Wir, so ihr Credo, sind die Ordnungsweltmeister in einer unordentlichen Welt. Ihnen zufolge kann Papier alles. Wenn man das Papier nur voll genug schreibt und die richtigen Wörter setzt, wird die Welt schon folgen. Sehr papiergläubig, sehr deutsch!
Die Frauen in der Runde hingegen, machten es eine Nummer kleiner, sehr wohltuend. Sie packten an, sie ließen die Luft aus den großen Begriffen und verbreiteten Zuversicht. Die ganze Welt ist Bühne, sagt Shakespeare. Also zum Schluss noch mal im Schnelldurchlauf die Rollen. Volker Bouffier, der Besorgnisgroßmeister. Kirchhoff, der Undeutlichkeitsexperte (Anne Will: „Ich komm nicht mit“). Johannes Vogel, der Tatkraftdarsteller. Manuela Schwesig, die Vernunftanwältin. Jutta Brändle, die Zukunftsgarantin. Und Tony? Ein Zukunftssucher. Ein Mensch.