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Das war alles andere als eine „stern“-Stunde, als Reporter Gerd Heidemann 1983 die vermeintlichen Hitler-Tagebücher der Öffentlichkeit präsentierte.
© Chris Pohlert/dpa

70 Jahre "stern": Wundertüte statt Sturmgeschütz

Für den „stern“ war Politik stets nur ein Thema von vielen. Jetzt wird die Zeitschrift 70 Jahre alt.

Der Jubilar wird 70 Jahre alt und gilt als durchaus rüstig. Sein Leben im Schnelldurchlauf läse sich etwa so: Aufgewachsen bei einem ehrgeizigen, manchmal despotischen Vater. Zu Höchstleistungen getrimmt, um Schwiegermutter zu gefallen. Etliche Raufereien überlebt, einmal ganz gemein betrogen worden. Immer wieder aufgestanden. Der „stern“ wird 70.

Zarte 16 Seiten hat der „stern“, als er am 1. August 1948 im Anzeiger-Hochhaus in Hannover das Licht der Magazin-Welt erblickt – im selben Gebäude, in dem auch der „Spiegel“ bis 1952 herausgegeben wird. Der Gründer des „stern“, Henri Nannen, damals 33 Jahre alt und ehemaliger Kriegsberichterstatter der Luftwaffe, hat eigentlich die Lizenz für die Jugendzeitschrift „Zick-Zack“ bekommen. Den hübscheren Namen „stern“ borgt er sich von einer Berliner Filmillustrierten der Dreißigerjahre, passenderweise ziert Hildegard Knef die Erstausgabe. Der frisch geborene „stern“ kostet 40 Pfennige und will gleich gebührend beachtet werden. Abgesehen von Knef auch mit der Schlagzeile: „Ein 17-jähriger Werwolf packt aus“.

Es vergehen ein paar Jahre, in denen der „stern“ sich etabliert, aber seine Leser nur ungern mit Politik vergrault. Nachkriegsdeutschland hungert nach Leichtigkeit – und Nannen weiß das. Natürlich wird Politik gemacht. Er aber präsentiert lieber das schönste Strumpfbein und druckt Sophia Loren ganze fünfmal auf die Titelseite. Fortsetzungsromane und schöne Frauen prägen die ersten Jahre des „stern“. Das Magazin wird zur „Wundertüte“, ein Begriff, mit dem es bis heute verknüpft ist.

Politisch wird der "stern" in den 1960ern

Ein genaues Datum, an dem der „stern“ politisch wird, ist nicht überliefert – aber die meisten ehemaligen Mitarbeiter können sich auf die frühen 60er einigen. Zu verdanken hat das Magazin diese Entwicklung aber nicht nur Nannen, sondern auch einem Mann, der im Schatten des mächtigen Vaters manchmal verschwindet: Rolf Gillhausen.

Gillhausen, in „stern“-Kreisen kurz „Gill“ genannt, beginnt 1952 als Fotoreporter, liefert Scoops und legendär gewordene Afrika-Reportagen. Spätestens Anfang der 60er hat Gill aber die Nase voll vom Fotografieren. Nannen lässt ihn gewähren, Gill erfindet den „stern“ optisch neu, führt opulente Bildstrecken und Doppelseiten ein. Er kommt morgens um sechs Uhr in die Redaktion, sichtet stapelweise die internationale Presse, bestellt Fotografen zu Unzeiten in sein Büro. Als Blattmacher und späterer „stern“-Chefredakteur druckt Gill nicht nur Schönes, sondern auch Grausames. Als er einmal gefragt wird, ob man Fotos eines Lynchmords veröffentlichen dürfe – was er getan hatte – ist seine Reaktion: „Die Welt muss so etwas sehen, wenn man sie ändern will.“ Ganz nebenbei wird Rolf Gillhausen übrigens auch noch „Geo“ erfinden.

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Auch Henri Nannen trimmt seine Reporter mehr und mehr auf Politisches, persönlich befürwortet er vor allem die Ostpolitik Willy Brandts. So viel Engagement ist nicht überall gern gesehen: Der Schnapsfabrikant Asbach Uralt droht mit Anzeigenboykott. Nannen reagiert, indem er in jede Folge seines Fortsetzungsromans die Frage „Wollen Sie einen Asbach oder darf es etwas Besseres sein?“ einfügen lässt. Acht Wochen später knickt die Brennerei ein. Der Streit ist bis heute journalistisches Heldenepos.

Die Strategie geht auf: Im Frühjahr 1967 erreicht der „stern“ seine höchste Auflage aller Zeiten. Er verkauft über 1,9 Millionen Exemplare und überholt damit kurzfristig sogar den „Spiegel“, der trotz gemeinsamer Kinderstube größter Konkurrent ist. Nannen bezahlt seine Journalisten fürstlich, schickt sie in die weite Welt hinaus, schreit sie zusammen, dass die Wände wackeln und nervt sie unsäglich mit seiner Schwiegermutter. Wenn die angeblich einen Text nicht verstanden hat, müssen alle noch mal ran. Nicht jeder hält dem Druck stand, manche fluchen nur, andere zerbrechen. Nannens langjähriger Stellvertreter Manfred Bissinger hat es einmal so formuliert: „So mancher journalistische Adler verglühte in seiner Nähe zum Suppenhuhn.“

Der „stern“ macht unverdrossen weiter: In den 70ern verbündet er sich kurzzeitig mit Alice Schwarzer, die den „Wir haben abgetrieben“-Titel initiiert, aus seiner Interview-Serie „Babystrich“ entsteht das Buch „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Es ist ein „stern“-Reporter, der in den 80ern den toten Uwe Barschel in der Badewanne fotografiert, und es ist auch der „stern“, der sich einen der größten Presseskandale Deutschlands ins Haus holt: Die gefälschten Hitler-Tagebücher. Ein waschechter Betrug einerseits, journalistisches Versagen andererseits – der Gesamtschaden, den das Magazin dadurch erleidet, liegt geschätzt bei rund 100 Millionen D-Mark. Mittlerweile, so sagen „stern“-Journalisten, werden sie aber nur noch selten auf diesen gigantischen Flop angesprochen.

Und heute, so als Jubilar von 70 Jahren? Mehr als die letzten 20 davon muss sich der „stern“ nun schon vaterlos durchschlagen; Nannen stirbt 1996. Das Magazin hat einige Chefredakteure verschlissen: Unter Dominik Wichmann wurde es 2013 relauncht, seit 2014 leitet es Christian Krug, der sich nicht scheut, auch Städte und Rückenschmerzen auf den Titel zu nehmen. Die Auflage von rund 528 000 Exemplaren würde Nannen, der immer „vor einer vollen Kirche predigen“ wollte, eher unruhig werden lassen. Andererseits hat der „stern“ selbst jede Menge Nachwuchs in die Welt gesetzt, der sich ganz wacker schlägt: Dazu gehört unter anderem „Stern View“, ein Gesundheitsableger mit Eckart von Hirschhausen und der Überaschungserfolg „Stern Crime“.

Eine weitere Überarbeitung des Hefts, so hört man, ist derzeit nicht geplant. Das letzte Lifting ist ja auch gerade mal fünf Jahre her. Der „stern“ darf laut Verlag im Seniorenalter so weitermachen, wie er in seinen Zwanzigern begonnen hat: Reportagen, Fotos, Fokus auf den Menschen. Einen alten Baum soll man ja nicht unbedingt verpflanzen – wenn man nicht wirklich muss.

Tatjana Kerschbaumer

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