Bilanz der "Tatort"-Saison: Wofür es sich zu sterben lohnte
Zwischen Scherz und Terror, Schuss und Fang – Der „Tatort“ im Ersten hat die Saison 2016/17 beendet.
Die „Tatort“-Fans müssen jetzt sehr tapfer sein. Mit der NDR-Folge „Borowski und das Fest des Nordens“ hat der „Tatort“ seine Saison 2016/17 beendet. Erst im August soll wieder Premierenzeit am Sonntag um 20 Uhr 15 sein.
Das finale Stück war ein verschatteter, verstörender Krimi im Dogma-Stil, Kommissare, die sich anbrüllen, schubsen, sich beleidigen, so heftig, dass der Zuschauer sich nur wundert, warum aus der verbalen Gewalt keine reale wird. Ein Gender-Krieg, der um die Tragödie des Roman Eggers (überragend: Misel Maticevic) herum gelagert ist: Im Leben an allem gescheitert, verzweifelt bis auf des Menschen Grund, wird Eggers zum Doppelmörder.
Die wohl atemberaubendste, komischste und entsetzlichste Szene ist sechs Minuten lang: Eggers will sich von seinem Gläubiger Rolf erneut Geld leihen. Ein demütigender Akt, von Jakob Beuerle mit der Handkamera intensiv und ungeschönt eingefangen. Zwei junge Männer und ein Baby sind auch im Raum. Jede Sekunde kann die Situation eskalieren – der Säugling stets in der Gefahrenzone. Am Ende sind beide Männer schwer verletzt, das Zuschauen schockiert und schmerzt.
Letzter Auftritt von Sibel Kekilli
Neben alldem hat Sibel Kekilli ihren letzten Auftritt im NDR-„Tatort“, ihre Sarah Brandt kämpft in brutalen Wortwechseln mit ihrem Ermittlerkollegen Klaus Borowski (Axel Milberg) um Behauptung und Beachtung. Die Kekilli ist Milberg wie Maticevic in der schauspielerischen Kapazität ebenbürtig. Und alle drei der Inszenierung von Jan Bonny, der mit seiner sprunghaften, rauen, gewaltig-gewalthaltigen Regie weitere Freiheitsgrade im „Tatort“-Erzählen eröffnet.
Schwingt eine Frage mit: Ist „Borowski und das Fest des Nordens“ der beste „Tatort“ unter den 36 Premieren seit dem Kölner Krimi „Durchgedreht“ am 21. August 2016? Eine subjektive Frage, die mit den vier besten Episoden beantwortet werden soll: Also der „Borowski“-Fall; dann der nach dem Anschlag in Berlin auf Ostermontag verschobene Dortmunder „Tatort: Sturm“, eine Negation aller Sicherheitsbeteuerungen bei der Terrorgefahr: dann „Babbeldasch“ aus Ludwigshafen: ein Impro-Krimi ohne festes Drehbuch, mit Laienspiel und sagenhaft viel Dialekt. Es schüttete Kritik, die Quote war mit sechs Millionen Zuschauer mies. ABER: Groß der Krimi in der Konsequenz, der Krimireihe eine Nase zu drehen. Auch der Berliner Krimi „Amour fou“ reiht sich in die Best-of-Liste ein. Meret Becker und Mark Waschke sind auf geradem Weg, zu den führenden Ermittlerpaaren aufzuschließen. Und die Schwulen-Thematik ging ohne jedes Säfteln und Sabbern über den Schirm.
Wie war eigentlich der große Jubiläums-„Tatort“? Mittelprächtig. Ein Exsoldat nimmt zwei NDR-Ermittler – Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) und Klaus Borowski (Axel Milberg) – als Geiseln in einem „Taxi nach Leipzig“ mit. Der erste „Tatort“ 1970 mit dem nämlichen Titel gehört unverändert ins obere Qualitätsdrittel der Reihe, die Neuauflage in die untere Hälfte.
Der „Tatort“ hat auch in der abgelaufenen Saison wieder mäandert. Erstaunlich und erfreulich, was sich die Redaktionen in den neun ARD-Häusern trauen. Ein großes Mix an Stilen, an Konstellationen, an Risiken, zusammengehalten nur von der Krimi-Klammer und der antreibenden Mördersuche.
Die Mehrheit des Publikums will keine Experimente
Das Publikum macht einiges an Experiment mit und ist in seiner Majorität doch froh, wenn keine Labor-Besatzung den 20-Uhr-15-Termin kapert. Warum sonst hatte ein Fall des Teams Thiel/Boerne aus Münster wieder die meisten Zuschauer? Den Scherzkeks-Krimi „Fangschuss“ mit Axel Prahl und Jan Josef Liefers sahen sensationelle 14,56 Millionen, was die höchste Zuschauerzahl seit 25 Jahren für einen „Tatort“ bedeutete.
Der ARD-Krimi bedeutet auch Freude im und am Ritual. Jeweils vier Mal kamen die Duos aus München und Köln zum Einsatz. Die Fälle von Batic/Leitmayr in München, Ballauf/ Schenk sind weit mehr als solides Krimihandwerk. Sorgfältig geschrieben, sorgfältig inszeniert, souverän im Spiel. Es wäre schon komisch, wenn diese Ermittler mit sehr bekannter Bildschirm-Biografie plötzlich psychedelisierten, fraternisierten, den Mond anbeten würden. Tief sind sie in ihrer Ermittlerspur, mit wenigen Ausreißern in private Befindlichkeiten.
Tatsächliche und angekündigte Abschiede gilt es zu vermelden. Sibel Kekilli hat beim Kieler „Tatort“ aufgehört, das Bodensee-Team um Kommissarin Klara Blum (Eva Mattes) verschwand komplett. Der letzte Fall „Wofür es sich zu leben lohnt“ verband Mattes mit ihren Fassbinder-Kolleginnen Irm Hermann, Margit Carstensen und Hanna Schygulla. Mehr ein Ende mit Schrecken als ein großes, Wehmut auslösendes Finale. Beim Vierer-Team in Dortmund wollte Stefan Konarske nach zehn Fällen nicht länger Oberkommissar Daniel Kossik sein.
Andreas Hoppe spielt seit 21 Jahren Kriminalhauptkommissar Mario Kopper in Ludwigshafen. Während Ulrike Folkerts als dienstälteste „Tatort“-Kommissarin Lena Odenthal weiter fahndet, wird Kopper mit seinem 57. „Tatort“ – „Kopper“ im Titel und für die Weihnachtszeit geplant – ein letztes Mal die „Wo waren Sie gestern um 20 Uhr 15?“-Frage stellen. Wäre ein Schnitt nicht besser und Folkerts würde wie Hoppe aufhören?
Im Februar wurde zudem bekannt, dass Sabine Postel (seit 1997 Inga Lürsen) und Oliver Mommsen (seit 2001 als Ermittler Stedefreund im Einsatz) den Bremer „Tatort“ verlassen werden.
Harald Schmidt sagte ohne Begründung ab
Die prominenteste Verzichtsleistung kommt von Harald Schmidt. Er sollte beim neuen Freiburger „Tatort“ die Rolle des Kriminaloberrats Gernot Schöllhammer übernehmen. Kurz vor Drehbeginn für die im Oktober geplante Premiere sagte er ab. Der Südwestrundfunk schwieg sich über die Gründe aus, ebenso Schmidt. Schon merkwürdig. Der Sender ist selbstbewusst genug, mit den frischen Schauspielkräften Eva Löbau und Hans-Jochen Wagner als Ermittlerduo ins Quotenrennen zu gehen. Aus dem Schmidt-Part wird eine weibliche Vorgesetzte, gespielt von Steffi Kühnert.
Til Schweiger musste in der „Tatort“-Saison 2016/17 niemanden totschießen. Das wird sich ändern, beim ARD-Krimi liegen Freud und Leid sehr eng zusammen.
Beim Publikum hat sich auch was getan. Wenn die Beobachtung stimmt, dann hat das „Rudelgucken“ zugenommen, egal, ob im Freundes- oder im Kneipenkreis. Dieses Public Viewing funktioniert auch virtuell. Unter dem Hashtag #tatort findet sich an jedem Premierensonntag ein Second-Screen-Publikum zusammen. Die zahllosen Tweets fügen sich zum veritablen Grundrauschen – witzig, zugespitzt, auch nervig und nölig. Aber in der Summe zuweilen unterhaltsamer als der Krimi selber. (mit dpa)