Bilder im Internet: Wir Voyeure
Das Internet liefert uns all die Bilder - grausige, schmuddlige, peinliche. Und jeder ist sein eigener Zensor: Darf ich das sehen? Es gibt einen Weg, sich richtig zu entscheiden. Ein Kommentar.
Das Internet ist eine Peepshow. Täglich sitzen wir in der digitalen Kabine und werfen verstohlene Blicke auf gucklochgroße Ausschnitte des Grausigen, Unglücklichen und Intimen. Hier nur einige Momente aus der Vorstellung der vergangenen Wochen: Polizisten in St. Louis erschießen den Schwarzen Kajieme Powell. Jennifer Lawrence ist nackt zu sehen. IS-Terroristen ermorden die Journalisten James Foley und Steven Sotloff. Wir sind dabei – oder könnten es jederzeit sein. Die Medien, selbst die neuen Medien, sind keine Filter mehr. Irgendeine Schmuddelseite wird es immer geben, die uns die Bilder noch serviert. Der Zuschauer wird somit selbst zum ethischen Zensor. Er muss sich fragen: Darf ich das sehen?
Juristisch ist der Betrachter in den genannten Fällen aus dem Schneider. Die Nacktbilder der Schauspielerin Jennifer Lawrence sind zwar auf illegalem Weg ins Netz gelangt, ihr Account wurde gehackt, die Bilder gestohlen. Nur wer die Bilder weiterverbreitet, macht sich strafbar. Im Falle der Ermordung der amerikanischen Journalisten ist nicht einmal die Verbreitung des Videos illegal. Einige Journalisten argumentierten, die Videos dokumentierten die Brutalität des IS und hätten daher einen Platz in der politischen Öffentlichkeit. Und auch die Bilder von der Erschießung Kajieme Powells sind legale Ware. Die Polizei stellte sie selbst ins Netz – um nach dem Aufruhr in Ferguson ihren Willen zur Transparenz zu demonstrieren.
Moralisch allerdings fällt die Bewertung weniger eindeutig aus. Sicher: Erst, indem wir uns Jennifer Lawrence nackt anschauen, entblößen wir sie. Schwieriger aber ist schon die Frage, ob man sich ansehen darf, wie Kajieme Powell stirbt. Wäre es nicht vor dem Hintergrund der Debatte um rassistische Polizeigewalt in den USA richtig, sich ein eigenes Urteil zu bilden?
Wie die Beurteilung auch ausfällt – Bilder und Videos dieser Art werden immer ihre Zuschauer finden, vielleicht sogar immer mehr Zuschauer. Wie kein anderes Medium verstärkt und füttert das Internet den menschlichen Voyeurismus. Durch die virale Verbreitung im Netz drängen sich die Bilder (oder zumindest das Wissen um ihre Existenz) geradezu auf. Beinahe täglich erzeugt das Internet dabei jene Gleichzeitigkeit von Sehen-Wollen und Nicht-Sehen-Wollen, die das Voyeuristische ausmacht, jenes Zusammenfallen von Nähe und Ferne, von Angezogen- und Abgestoßen-Sein. Es ist ein bipolares Gefühl, und es zieht seine Macht aus eben diesem Selbstwiderspruch: Indem das moralische Ich ein Verbot ausspricht, macht es den Gegenstand für das glotzende Urvieh in uns erst umso köstlicher.
Schon wittern die Ersten eine Verrohung der Gesellschaft, eine Desensibilisierung gegen Gewalt und Unglücke. Doch der innere Dialog des Voyeurs muss nicht zwangsläufig zuungunsten der Selbstdisziplinierung ausfallen. Es gilt, die moralischen Seite in uns zu belohnen, ihr etwas zu geben, das mindestens so attraktiv ist, wie durch das Guckloch zu gucken.
Auf der Seite der Gerechten zu stehen, kann eine solche Belohnung sein – und auch dieses Gefühl kann das Internet liefern. Nach der Veröffentlichung des Videos, das die Ermordung James Foleys zeigt, verpflichteten sich Tausende öffentlich auf Twitter, den Film weder zu sehen noch zu verbreiten. Das Netz verstärkt unseren Voyeurismus – doch es liefert gleichzeitig die Mittel, uns davon zu heilen.
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