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Man kann nicht nicht kommunizieren. Die Frage ist eben nur, auf welche Weise die Kommunikation passiert – von Gesicht zu Gesicht, digital, über Umwege, freiwillig?
© Getty Images/Caiaimage

Interview mit Medienwissenschaftler Pörksen: „Wir kommen uns im digitalen Dorf unerträglich nahe“

Der Mensch steckt in seiner eigenen Filterblase, in seiner kommunikativen Bestätigungssehnsucht fest. Quatsch, sagt Pörksen. Der Mensch agiert im Filterclash.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt erschien sein Buch „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“.

Herr Pörksen, Sie arbeiten als Professor für Medienwissenschaft an der Exzellenzuniversität Tübingen. In welcher Filterblase leben und arbeiten Sie denn so?

Das ist eine Fettnapf-Frage, oder? Ich könnte so tun, als sei ich – im Unterschied zum leider ziemlich belämmerten Rest der Menschheit – frei von Vorurteilen, den Verführungen und den Eigentümlichkeiten meines Milieus. Aber das stimmt natürlich nicht. Deshalb zurückgefragt: Worauf wollen Sie hinaus?

Meine Frage: Ist die Filterblase dicht, die Mono-Diät im Informationsuniversum total? Oder kommt man da raus?

Das hängt von der eigenen Bereitschaft ab, sich aus dem Gehäuse der eigenen Vorurteile zu befreien, eine zweite Natur der Offenheit zu trainieren, sich überraschen zu lassen. Und natürlich kommt man da raus, klar.

Ich behaupte: Schon wer sich nur ein paar Minuten auf Twitter oder Facebook treiben lässt, sich durch ein beliebiges Kommentarforum klickt, taucht ein in ein Multiversum der Wirklichkeiten. Und er macht die Erfahrung, dass die ganze Filterblasenidee eigentlich eine Filterblase für Netztheoretiker ist, ein einigermaßen bizarres, jede Alltags- und Medienerfahrung verhöhnendes Scheuklappen-Modell, das einem selbst Scheuklappen aufdrückt - und das verhindert zu sehen, was wir doch eigentlich permanent erleben: die manchmal beglückende, oft stressige Sofort-Konfrontation mit immer anderen Ansichten im Medium der digitalen Öffentlichkeit.

In mehreren Essays haben Sie sich vom „außerordentlich mächtigen Denkbild der aktuellen Netzdebatten, der Filterblase“ entfernt. Gab es dafür einen bestimmten Auslöser, ein bestimmtes Motiv?

Tatsächlich, ja. Vor gut zwei Jahren begann ich, mir Notizen für ein Buch über die veränderte Kommunikation durch digitale Medien zurechtzulegen und las nebenher und am Abend den „Zauberberg“, jenen bedrohlich schillernden und gleichzeitig so irrwitzig komischen Roman von Thomas Mann, der in einem Sanatorium in den Schweizer Alpen spielt. Hier sitzen kränkelnde, keuchende, Blut hustende Luxuswesen herum, atmen in dicke Decken gehüllt die kühle Bergluft, versuchen der Welt abhandenzukommen.

Aber das gelingt ihnen nicht, denn am Vorabend des Ersten Weltkriegs hat sich die Luft der Epoche geändert. Mit einem Mal herrscht, wie es in einem Schlüsselkapitel heißt, „kriselnde Gereiztheit“. Die Atmosphäre ist explosiv. Tag für Tag gibt es infektiöses, giftiges Gerede, aufschießende, ansteckende, sich endlos fortzeugende Wut. Und deutlich wird: Selbst hoch oben auf dem Berg kann man sich dem Stimmungsschicksal der eigenen Gegenwart nicht entziehen.

Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt erschien sein Buch „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“.
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt erschien sein Buch „Die große Gereiztheit. Wege aus der kollektiven Erregung“.
© Peter-Andreas Hassiepen

Sie haben bei der „Zauberberg“-Lektüre an das digitale Zeitalter gedacht.

Genau. Die Tages- und Abendlektüren begannen zu verschwimmen, Thomas Mann erschien mir als der meisterhafte Analytiker der atmosphärischen Agitation. Und die These meines Buches war plötzlich da. Vernetzung verstört. Sie verhindert die Flucht in die informationelle und die emotionale Isolation.

Ähnlich wie die vor sich hin wütenden Sanatoriumsinsassen können wir uns auch heute kaum entziehen. Wir sehen, auf unser Smartphone blickend, alles, was so geschieht: die neuesten Berichte von einer Schießerei in den USA, die Pöbelei eines US-Präsidenten, der auf Twitter mit der Größe seiner Atomsprengköpfe prahlt, Bilder des obszönen Reichtums und der obszönen Armut, Banales, Berührendes und Bestialisches, Katzenvideos und die Postings von Rechtsterroristen, die sich gerade noch auf der Website 8chan gegenseitig aufpeitschten.

Und wir kommen uns im digitalen Dorf unerträglich nahe, können einander eben gerade nicht, in unseren vermeintlich abgeschlossenen Filterblasen hockend, ausweichen. Das ist, neben sehr viel Ungerechtigkeit in dieser Welt, die mediale Tiefenursache der großen Gereiztheit.

Wollen Sie dementieren, was Eli Pariser in seinem Buch „Filter Bubble“ festgestellt hat? Man sieht, was man sehen will, man hört, was man hören will, man erfährt, was eigene Annahmen bestätigt.

Ich will nicht dementieren, dass wir – anthropologisch gesehen – bestätigungssüchtige Wesen sind. Die Macht des „confirmation bias“ zu bestreiten, wäre absurd. Aber ich bestreite entschieden, dass Eli Parisers Filter-Bubble-Theorie mehr ist als eine Modethese, ein flottes Wort ohne analytische Kraft, das gerade mal für den Smalltalk der Gesellschaftsanalyse taugt, aber auch nicht für mehr.

Sie langen kräftig hin. Wie lautet die Begründung?

Ich will drei Begründungen liefern. Zum einen widerspricht die Filterblasen-Idee unserer alltäglichen Erfahrung. Eigentlich keine gute Voraussetzung für eine Theorie, die mehr sein will als ein empiriefernes Gedankenspiel, oder? Das Wesen des Netzes besteht in der Verlinkung. Und jeder Link katapultiert einen womöglich in eine andere Wirklichkeit; man klickt nur drauf – und schon ist man in einer anderen Realität, einer neuen Welt. Diese Erfahrung kann jeder jeden Tag machen. Zum anderen widerspricht die Filterblasen-Idee einer zentralen Annahme der Netzwerk-Soziologie, die besagt: Schwache Verbindungen – sogenannte „weak ties“ – programmieren die Informationsvielfalt.

Konfrontation außerordentlich wahrscheinlich

Was bedeutet diese Einsicht für die Kritik des Filterblasen-Modells?

Man muss sich klarmachen: Jugendliche haben durchschnittlich etwa 400 Facebook-Freunde. In diesem Beziehungsuniversum der schwachen Verbindungen ist die Konfrontation mit immer anderen Ansichten außerordentlich wahrscheinlich, auch das spricht gegen die Horrorvision einer irritationsunfähig gewordenen Gesellschaft, die aus einer Ansammlung von unverbundenen, algorithmisch voneinander getrennten Realitätssphären besteht.

Und schließlich machen die bisherigen Studien allesamt zweierlei klar: Unsere digitale Informationswelt ist trotz der personalisierten, selbstlernenden Empfehlungsalgorithmen sehr viel vielfältiger als gedacht. Und das, was wir eine Filterblase nennen, ist eigentlich ein Indikator unseres Informationsverhaltens, Ausdruck der allgemein menschlichen Bestätigungssehnsucht, die Eli Pariser in eine algorithmisch-technische Manipulationsidee verwandelt.

Noch mal nachgefragt: Was ist das daran so schlimm?

Schlimm ist das vielleicht nicht wirklich, aber empirisch falsch und gesellschaftspolitisch fatal, weil man so suggeriert: Lasst uns nur Überraschungsalgorithmen basteln und ein paar hübsche Zufallsblitze programmieren, dann ist alles wieder gut! Bildungsprozesse werden so zu einer Frage des Softwaredesigns, der andere Mensch gerät aus dem Blick.

Sie sehen eine solche Theorie als die Repräsentation eines Denkens, das Sie ablehnen.

Ja. Es handelt sich um ein Paradebeispiel der gegenwärtig verbreiteten Verführungs- und Manipulationsphantasien, die mal von übermächtigen Frames, dann vom raffinierten Mikrotargeting, schließlich, wie in diesem Fall, von allgegenwärtigen Algorithmen handeln. Ich kann diesen Quatsch freihändig formulierender Apokalyptiker zunehmend weniger ertragen und würde sagen: Solche Theorien sind tatsächlich ein Symptom, und zwar für die Arroganz, den Antiliberalismus und den Aufklärungspessimismus ihrer Vertreter, die das potenziell mündige Subjekt und das eigenständige Individuum in ihren Großthesen vorschnell verabschieden.

Entmündigung höherer Ordnung

Man verfällt in Resignation...

... denkt sich selbst und andere wehrlos und betreibt über den Umweg vermeintlich kritischer Analysen eine Entmündigung höherer Ordnung, die nur eigene programmatische Ratlosigkeit maskiert.

Wie lautet die Konsequenz?

Vielleicht brauchen wir für eine Humanisierung der Verhältnisse auch eine Humanisierung der Theorien. Wir müssen, anders gesagt, vom Menschen sprechen, wenn es um Menschen und seine selbst verschuldete Unmündigkeit geht. Die Stilisierung von Algorithmen zum Angstgegner führt uns davon weg.

Wenn das Denkbild der Filterblase irreführend, ja falsch ist, was ist dann richtig?

Ich selbst spreche – im Sinne eines Vorschlags und hoffentlich in ausreichender Distanz zum Digi-Blabla des Konferenzzirkus – vom Filterclash, dem Aufeinanderprallen von Parallelöffentlichkeiten, die in radikaler Unmittelbarkeit kollidieren. Und behaupte: Die Vernetzung der Welt macht den Filterclash unvermeidlich. Man kann sich zwar einigeln, aber vermag einander nur schwer auszuweichen, ganz so, als lebe man in einem belagerten Tal, in dem man immer auch das helle oder dunkle Tal der anderen sieht.

Und eben diese fortwährende Konfrontation, der Distanzverlust im Verbund mit konstanter „Feindberührung“ polarisiert, erzeugt die große Gereiztheit und die Bewusstseinslage eines fragilen Fundamentalismus, so meine These. Wir leiden unter einem informationstechnisch produzierten Dissonanz- und Differenzkoller.

Nach ihrer Argumentation dürfte es Impfgegner und all die Verschwörungstheoretiker nicht geben, die sich immer mehr in ihre Eigenwelten zurückziehen. Es gibt sie aber. Wie das, Herr Pörksen?

Natürlich, es gibt jede Menge ideologische Selbstverhärtung. Und man kann sich leichter denn je in sein Selbstbestätigungsmilieu und die Bekenntnisgemeinschaft der Wahl zurückziehen, auch das stimmt. Aber man kann dem anderen eben doch nicht ausweichen, und darauf kommt es mir an. Auch der Impfgegner wird sich unter vernetzten Bedingungen immer wieder und in seinem eigenen Kommunikationskanal Kommentaren ausgesetzt sehen, die seinen Ansichten radikal widersprechen.

Gleichzeitigkeit des Verschiedenen

Es gibt Echokammern, in die man sich bewusst hineinbegeben hat, die aber auf die Echokammern der anderen Seite prallen?

Absolut. Und damit stellt sich die Frage, wie man die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen, also Schließung und Öffnung, Abschottung und Konfrontation, zusammendenken kann. Die Antwort hat der Netztheoretiker Michael Seemann geliefert. Er unterscheidet positive und negative Filtersouveränität.

Was ist damit gemeint?

Man kann sich aktiv in seine Wirklichkeitsblase hineingoogeln, kann für jede Idee einen Beleg, für jeden Irrwitz einen sogenannten Experten finden. Das meint positive Filtersouveränität. Und das Netz kommt der Bestätigungssehnsucht sehr weit entgegen, stellt von der Logik des Empfängers auf die des Empfängers um, der sich – einerseits – seine Wunschwirklichkeit zusammensucht. Andererseits kann man jedoch der Weltsicht der anderen nicht entkommen, kann sich eben gerade nicht effektiv abschotten, isolieren. Negative Filtersouveränität ist in der vernetzten Welt nicht zu haben.

Die meisten Theorien und Modelle sehen den kommunizierenden Menschen in einer akuten Gefährdungslage. Entweder überwältigt oder unterinformiert, mehr scheint nicht drin zu sein. Existiert nicht auch der Souverän, der nach und nach gelernt hat, im Universum der Algorithmen seinen eigenen Algorithmus zu entwickeln?

Das ist schöner Gedanke, aber eben diese Poesie der Autonomie geht in den aktuellen Debatten gerade verloren. Es gibt, ausgelöst durch den Trump-Schock, den Brexit, das Wideraufflammen des Nationalismus und den Aufstieg der Rechtsparteien eine neuartige Macht des dystopischen Denkens in der gesellschaftlichen Mitte, die den populistischen Narrativen des Niedergangs und dem dumpfen Lärm der Boulevardmedien formal ähnlich ist.

Aber was bleibt, im Ernst gefragt, wenn man das Sterben der Demokratie, den Tod der Wahrheit verkündet und das postfaktische Zeitalter ausruft? Was bleibt, wenn man Ende von Moral und Menschlichkeit im digitalen Datenstrom prophezeit, wie dies der gefeierte Historiker Yuval Harari tut? Ich würde sagen: Liberale Zeitgenossen sind zu einem Minimum an Aufklärungsoptimismus verpflichtet. Sonst bleiben nur die Flucht in den Fatalismus und eine apokalyptische Eskalationsrhetorik, die selbst zur Überhitzung des Kommunikationsklimas beiträgt.

Was kommt? Keine Ahnung

Die Melancholie des Analogen, die Gereiztheit des Digitalen – was kommt danach?

Vielleicht noch mehr Melancholie und Gereiztheit, aber ich weiß es nicht.

Was wäre der Wunsch?

Eine medienmündige Gesellschaft, die gelernt hat mit dem Geschenk des Informationsreichtums und der Medienmacht eines jeden Einzelnen umzugehen.

Und wie kommt man dahin?

Mein Vorschlag: Wir müssen von der digitalen Gesellschaft der Gegenwart zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden. Was ist damit gemeint? Ich behaupte: In den Maximen des guten Journalismus steckt eine Ethik für die Allgemeinheit. Ganz konkret: „Analysiere Deine Quellen! Prüfe erst, publiziere später! Höre immer auch die andere Seite! Mache ein Ereignis nicht größer als es ist, orientiere Dich an Relevanz und Proportionalität!“ Im Moment sind wir medienmächtig, aber noch nicht medienmündig. Das ist das Kernproblem. Aber in der redaktionellen Gesellschaft der Zukunft sind diese Maximen ein Element der Allgemeinbildung, die schon in der Schule gelernt werden. Aber erneut: Das ist ein Wunsch, noch weit entfernt von der Realität.

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