9. November im SED-Zentralorgan: Wie das "Neue Deutschland" den Mauerfall fast verpasste
Furchterregend und realitätsfremd: Wie das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ vor 25 Jahren die Wende ins Blatt hob.
Die Mauer ist weg, aber dem „Neuen Deutschland“ ist das keine Schlagzeile wert. Am 9. November 1989, einem Donnerstag, wird Weltgeschichte geschrieben. Und tags darauf steht im Zentralorgan der SED dazu noch gar nichts, vielleicht weil es abends so spät geworden ist. Erst in der Wochenendausgabe vom 11./12. November ist der Mauerfall dann Thema, eine längere Erklärung von DDR-Innenminister Friedrich Dickel zu den neuen Reiseregelungen wird im Wortlaut abgedruckt. Dazu ein kleines zweispaltiges Foto ganz unten auf der Titelseite. Überschrift: „Viel Verkehr an den Grenzpunkten.“ Auf Seite 16 ein weiterer Bericht: „Die Heimat mal von der anderen Seite sehen“.
Tom Strohschneider war damals 15 und ist heute Chefredakteur des „Neuen Deutschland“. Häufiger in diesen Tagen holt er die alten Bände mit den Ausgaben der Zeitung aus den Wendetagen hervor – und reibt sich dann immer wieder verwundert die Augen. „Die enorme Wirklichkeitsentfremdung“ des SED-Apparats, wie Strohschneider es ausdrückt, spiegelte sich eins zu eins wider im Blatt, das heute als „sozialistische Tageszeitung“ der Linkspartei nahesteht. Die journalistische Umsetzung des Mauerfalls wirkt für den Journalisten, dessen Eltern das „ND“ damals bezogen, im Rückblick tragikomisch. Dieselbe Ausgabe der Zeitung machte auf mit einem Kommuniqué von der 10. Tagung des Zentralkomitees, vor der 150 000 Genossen auf eine Erneuerung der Staatspartei drängten: Das damalige Massenblatt wurde seiner Rolle als Parteiorgan noch einmal voll gerecht.
Das „ND“ aus jenen Tagen ist eine Art Geschichtsbuch. Nicht, weil die Ereignisse der damaligen Zeit vollumfänglich wiedergegeben werden. Sondern weil sich bei der Lektüre sehr gut nachvollziehen lässt, wie ein verlogenes System ums Überleben kämpft. Wobei die Redaktion in jenen Herbsttagen eigentlich fast immer den Ereignissen hinterherläuft, hinterherschreibt. Die Fluchtwelle, zunächst über Ungarn und dann auch über die CSSR und Polen ist bereits mächtig angeschwollen, da wird das Thema in der Ausgabe vom 19. September indirekt aufgegriffen, ein „rücksichtsloser Umgang der BRD mit Menschenschicksalen angeprangert“. Zwei Tage später erscheint dann die berühmt gewordene Räuberpistolengeschichte über den Mitropa-Koch Hartmut Ferworn, der, angeblich betäubt mit einer präparierten Menthol-Zigarette, aus Budapest in den Westen verschleppt worden sei. Erst im Januar 1990 wird sich das „ND“ für diese auf Druck der Stasi veröffentlichte Ente entschuldigen.
Bis dahin noch arbeitete die Zeitung tapfer am Ziel, von der DDR zu retten, was zu retten war. „Eine ganz merkwürdige und beängstigende Form des Dadaismus“, sagt Strohschneider über die damalige Zeitung. Die Stimmung im Lande sei geprägt gewesen von einer großen politischen Aufmerksamkeit, die Leser hätten gesucht nach Reflexion und Reaktion auf die anschwellende Protestbewegung. Das „Neue Deutschland“ aber lieferte „einfache Weltbilder“, wie der heutige Redaktionsleiter sagt: Berichte über Drogentote, Wohnungsnot und Massenarbeitslosigkeit im Westen. Im Kontrastprogramm wurden beispielsweise Erfolge bei der Rübenernte in der DDR bejubelt.
Ob sich das „Neue Deutschland“ im Herbst 1989 wirklich auf Propaganda verstand, ist noch die Frage. Glauben wollten selbst viele SED-Genossen „ihrer“ Zeitung damals nicht mehr. Oder lehrte das Blatt womöglich sogar sehr real das Fürchten? Ende September hieß es über einem Beitrag: „In den Kämpfen unserer Zeit stehen DDR und VR China Seite an Seite“. Peking – Egon Krenz ist gerade dort – dankt Ost-Berlin für die Unterstützung bei der Niederschlagung der Tiananmen-Proteste. Ein Vorzeichen der Polizeigewalt gegen Anti-Regime-Demonstranten in der DDR? Der nächste Tiefpunkt ist dann ein Kommentar der staatlichen Nachrichtenagentur ADN in der Ausgabe vom 2. Oktober über die aus Prag und Warschau in die Bundesrepublik abgeschobenen Flüchtlinge. In ihm hieß es: „Sie alle haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.“ 25 Jahre danach erklärt Strohschneider, dass es umgekehrt war: „Die SED-Führung hatte sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt.“
Sie ist dann auch nicht mehr zu retten. Noch am 6. Oktober, dem Vortag des Republikgeburtstages, dokumentiert das „ND“ auf Seite 3 ganzseitig einen Beitrag von Erich Honecker, der bereits in der sowjetischen „Prawda“ erschienen ist. In ihm heißt es: „Die DDR tritt nun in ihr fünftes Jahrzehnt.“ Danach geht es ziemlich rasant – bergab. In der Zeitung findet sich nun häufig der Begriff von „Kontinuität und Erneuerung“, auf einmal geht es auch um Probleme der Produktion. Nach dem Sturz Honeckers am 18. Oktober druckt die Zeitung Reden des abgesetzten SED-Generalsekretärs und seines Nachfolgers Krenz. Ohne die Lüge, Honecker sei aus gesundheitlichen Gründen abgetreten, kommt sie nicht aus.
Matthias Meisner