"Ein großer Aufbruch": Wer schlief mit wem? oder: 68er im Totentanz
ZDF-Generationenfilm „Ein großer Aufbruch“: Holm will sterben, vorher aber bei Familie und Freunden reinen Tisch machen
Oft kommt ein Fernsehspiel zur falschen Zeit, die Welt hat gerade andere Sorgen. Dieses, „Ein großer Aufbruch“ kommt richtig. Tod geht immer, der Bundestag debattiert die Sterbehilfe, die Novembertage drücken aufs Gemüt. Und, numerisch erklärbar, aber trotzdem eine Überraschung: Die sich für ewig jung haltenden Aufbrecher kommen ins Abgangsalter. Aus Weltverbesserern werden Weltverlasser.
Der Regisseur dieses Totentanzes, Matti Geschonneck, 63, und Drehbuchautor Magnus Vattrodt, 43, kennen sich mit den seelischen Untiefen der Altlinken aus, sie haben zusammen preisgekrönte Filme gemacht wie „Das Ende einer Nacht“. Sie wissen, dass nur ein Schauspielerensemble der Besten die Balance zwischen Ernst und Ironie schafft. Totentanz braucht die Hochkunst der genauen Töne. Schon wenn die Erzählstimme von Matthias Habich rau dahinorgelt und er die Menschen vorstellt, die er zur Feier seines bevorstehenden Selbstmords in sein Haus am Chiemsee einlädt, ist die Tonart herauszuhören, die den Film bestimmen wird: Moll affettuoso, Pathos, Selbstergriffenheit, Angstabwehr durch Inszenierung großer Gesten, um den Schiss vor dem Ende zu verbergen.
Das ist, wenn dann sein markiges Leidensmanngesicht zu sehen ist, großes Fernsehtheater. Die narzisstische Abgangsinszenierung, so spürt man gleich, ist eine Zumutung. Trotzdem: Fast beginnt man die 68er um die Naivität ihres Größenwahns zu beneiden. Etwas Besseres gegen den Tod haben andere Generationen schließlich auch nicht gefunden.
Matthias Habich spielt den Wasserbauingenieur Holm. Er hat der Entwicklungshilfe in Afrika gedient und vor allem seiner Selbstverwirklichung. Er war ein Held auf der Seite des Guten, nun darf er, so hat er beschlossen, seinen Heldentod, trotz hoffnungsloser Lungenkrebsdiagnose einigermaßen fit, gebührend feiern. Dann den Sterbehilfe-Schierlingsbecher genommen.
Als er sein Fahrrad zum Haus hochschiebt, wartet da schon Adrian, den Edgar Selge in mephistophelischer Gleichzeitigkeit als besten Freund, gekränkten Holm-Sklaven und verschlagenen Geheimnisträger spielt. Dann treffen die Frauen ein, die Opfer. Denen, so wird sich herausstellen, ist nicht nach letztem Wein zu Mute, sondern nach Wahrheit.
Die Frauen sind die Opfer
Holm hat in ihrem Leben Spuren hinterlassen, verletzende, rettende. Wenn er sich umbringt, wird den Frauen ein Element zur eigenen Selbstkonstruktion fehlen. Die ältere Tochter Marie (vornehm verletzt, nervös zickig, großartig: Ina Weisse) braucht Vater Holm, um ihre Erfolgssucht mit der Überforderung zu erklären, die sie als Kind zur Ersatzmutter gemacht hatte für die naive Schwester Charlotte (Katharina Lorenz), zur Vertreterin der in die Drogensucht geflohenen leiblichen Mutter (Hannelore Elsner).
Zum nicht vertuschbaren Leben der 68er gehört halt das erotische Chaos, das diese Generation so inbrünstig zelebriert, und das Sprechen darüber beim Sterben nicht aufgibt. Statt über den Sinn des Lebens zu reflektieren, reden sie auf Holms Lebensabschiedsparty über die Sinnlichkeit. Adrians Frau Katharina (Ulrike Kriener) ist auch gekommen. Ein Schimpfvulkan. Der Ehemann, gibt sie kund, sei ein Schlappschwanz. Die im Drogensumpf beinahe versunkene Holm-Frau Ella – eine Vollschlampe. Aber dann die Offenbarung des heiligen Geistes in allen 68er-Diskursen: Wer schlief mit wem?
Katharina hat es nach dem Abgang von Ella lustvoll mit Holm getrieben, Adrian, der vermeintliche Schlappschwanz, hat darüber geschwiegen und ist mit der jüngeren Holm-Tochter ins Bett gegangen, die Rache des dem Guru Holm verfallenen Normalos. Die Freien, die Abhängigen, die ganze ideologische Verstopfung, die Phrasen und das erotische Rasen – hier kommt alles auf den Abendmahlstisch. Nikolaus von Festenberg
„Ein großer Aufbruch“, ZDF, Montag, um 20 Uhr 15