Bremer Tatort: "Echolot": Wenn Mordopfer digital weiterleben
Der ARD-Krimi am Sonntagabend taucht tief in die digitale Welt ein. Für die Bremer Kommissare löst sich klassische Polizeiarbeit in Bits und Bytes auf.
Tablet: ausschalten. Strickzeug: weglegen. Chips: liegen lassen. Partner: nicht knutschen. Dieser „Tatort“ verlangt von der ersten Sekunde „högschde Konzentration“ (auch wenn er aus Bremen kommt). „Echolot“ führt die Zuschauer rasch aus der analogen in die digitale Welt, tief und tiefer geht es hinein, wer sich da ablenkt, der wird die Echos nicht hören (früher hieß das im ARD-Krimi: „Der hört den Schuss nicht“).
Die Geschichte der immerhin vier Autoren – Peter Henning, Christine Otto, Claudia Prietzel, Ben Braeunlich – ist zum Start hin klassischer Krimi. Vanessa Arnold (Adina Vetter), die Mitbegründerin des Start-up-Unternehmens „The Golden Birds“, kommt bei einem Autounfall ums Leben. Schnell finden die Kommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Stedefreund (Oliver Mommsen) heraus, dass die Elektronik des Wagens manipuliert worden war. Und weil sie digital ausgelegt war, führen die ersten Spuren zu „Golden Birds“. Vanessa Arnold hatte mit drei Freunden Jahre und Mühe in die Entwicklung eines digitalen Assistenten gesteckt, der bis zur Produktreife gekommen ist. Die Innovation könnte das Quartett, pardon, das Trio reich und erfolgreich machen. Zumal die Firma am Rande des Ruins wandelt.
Der Avatar ist die Kopie von Vanessa, „Nessa“ sein Name. Und jetzt wird’s digital und zwar so umfangreich und ausschließlich, dass Stedefreunds zwischenzeitliche Hoffnung „Endlich mal klassische Polizeiarbeit“ sich in Bits und Bytes auflöst. In dieser Welt bewegen sich sicherlich 99 Prozent der Zuschauer nicht. Damit sich diese aber nicht frustriert und vorzeitig aus dem Krimi verabschieden, greifen die Autoren zu einer dramaturgisch cleveren Maßnahme: Die Kommissare, unterstützt von ihrer Kollegin vom BKA, der Computerspezialistin Linda Selb (Luise Wolfram), gehen hinein in die Sphäre der digitalen Existenzen, der Virtual Reality. So, wie das Drehbuch und die dem Drehbuch sehr zugetane Regie – ebenfalls Henning/Prietzel – die Kommissare an die Hand nehmen, so wird das Publikum geführt, auf dass es sich in diesem Labyrinth aus wirklicher und erzeugter Wirklichkeit nicht verirrt. Fiktion ist Fiktion ist Fiktion.
Entdeckungsreise nach Digitalien
„Echolot“, und das tut dem Krimi sehr gut, ist eine gemeinschaftliche Entdeckungsreise nach Digitalien, wo sich von Menschen geschaffene Erfindungen verselbstständigen können, wo eine „Nessa“ autark und autoritär ist und Vanessa und ihre Freunde, die sich ihr gegenüber und untereinander auch wie Feinde begegnen können, gemeinsame wie gegenläufige Interessen verfolgen. Misstrauen, Habgier, Täuschung, die Spielarten der Beziehung, das gibt es in beiden Welten. „Echolot“ wirft Fragen auf und unterwirft die Antworten nicht dem moralischen Impetus.
Adina Vetter hat die anspruchsvollste Aufgabe. Sie spielt Vanessa und Nessa, sie sucht die Natürlichkeit in der virtuellen Figur und zugleich ihre Fremdheit. Auch dieser Leistung ist es geschuldet, dass der Zuschauer mehrfach den Boden unter dem Boden verliert: Was ist real, was ist digital? Kommissarin Lürsen hat – noch mehr als ihr Kollege Stedefreund – die Aufgabe, stellvertretend für das unschuldig-unkundige Publikum die Fragen an die „Golden Birds“-Nerds zu stellen. Dringend notwendig, wenn der Verständnisfaden nicht abreißen soll. Sabine Postel und Oliver Mommsen, dessen Stedefreund sich zu der leicht autistischen BKA-Kollegin Linda Selb hingezogen fühlt, spielen konzentriert, nüchtern, ihre Figuren sind dermaßen von der digitalen Herausforderung gebannt, dass für Extravaganzen gar keine Zeit bleibt.
Der Kreis der drei Verdächtigen, das sind die Mitbegründer und Miteigentümer Paul Beck (Christoph Schechinger), David Arnold (Matthias Lier) und Kai Simon (Lasse Myhr). Sie stehen für die Verbindung zwischen Mensch und digitaler Welt, mal mehr hier, mal mehr dort. Aber eben keine verlorenen Gestalten, sondern Menschen mit Interessen, Egoismen, Egomanien. Gutes, glaubwürdiges Schauspiel.
Die Inszenierung entwickelt keinen besonderen Ehrgeiz. Sie ist über die 90 Minuten um die Spezialität und die Spezifikationen der Geschichte bemüht, quasi deren Echolot. Und weil sie das ist, ist der Bremer „Tatort“ eine Konzentrationsübung, die sich lohnt. Tablet, Chips, Stricken, Knutschen gibt es hinterher als Belohnung.
„Tatort: Echolot“, ARD, Sonntag, um 20 Uhr 15