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Zum Fürchten sind nicht nur manche bedrohlichen Szenen der Fortsetzung des Spiele-Blockbusters „The Last of Us“, der am 19. Juni erscheinen soll. Auch die Arbeitsbedingungen der Entwickler sind es.
© Sony

Entwickler setzen Gesundheit aufs Spiel: Warum die Games-Branche so nicht weitermachen kann

Von "Fortnite" bis "GTA": Entwickler klagen seit Jahren über katastrophale Arbeitsbedingungen in großen Spielestudios. Für viele hat das gesundheitliche Folgen.

So viel steht fest: Die Coronakrise trifft die Videospielbranche in einem kritischen Jahr. Kurzfristig steht Gaming als großer Gewinner der „neuen Normalität“ da. Durch den Lockdown wird mehr gespielt denn je, die meisten Plattformen vermelden Rekordzahlen. Aber es wird wenig produziert: Motion-Capturing, Symphonieaufnahmen oder professionelles Voice-Acting seien unter momentanen Bedingungen erschwert bis unmöglich, verriet Phil Spencer, Xbox-Chef von Microsoft, kürzlich im Gespräch mit „Business Insider“.

Das heißt: In der zweiten Jahreshälfte erscheinen noch die Blockbuster, die durch die Corona-bedingten Lieferengpässe im Frühling verschoben werden mussten, aber bereits weitgehend fertig entwickelt waren, darunter „Cyberpunk 2077“ und „The Last Of Us Part II“, beide über fünf Jahre in Produktion. Was 2021 kommt? Keiner weiß es so genau.

Microsoft und Sony wollen ihre neue Konsolengeneration – die Xbox Series X und die PlayStation 5 – wie geplant Ende 2020 an den Markt bringen. Beide trainieren bereits kräftig die Marketing-Muskeln für ihre neuen Flaggschiffe. Sie versprechen das Vielfache an Rechenpower, noch komplexere Welten und Grafik an der Grenze zum Fotorealismus – wie jedes Mal in diesem fünf- bis zehnjährigen Hardwarezyklus.

Doch im Angesicht modernster Videospielträume überhitzen nicht nur die Mikrochips gegenwärtiger Konsolen, sondern auch die Nerven etlicher ausgebrannter Entwickler. Burn-out ist längst eine Berufskrankheit des „Immer mehr, immer schneller, immer besser“-Business. Die Branche befindet sich in einem handfesten Arbeitskampf.

"In einem Wettrüsten gefangen"

Schon 2016 warnte Amy Hennig, eine der einflussreichsten Game-Designerinnen der Welt: „Unsere Branche ist in einem Wettrüsten gefangen, das nicht zu gewinnen ist und Menschenleben zerstört.“ Seither erschüttert ein Arbeitsskandal nach dem anderen die umsatzstärkste Kulturindustrie der Welt, besonders in den USA und Kanada.

Fakt ist: Kaum ein Blockbuster der letzten Jahre kam ohne Phasen extremer Überstunden aus, in der Branche „Crunch“ genannt, wörtlich übersetzt bedeutet das Zermalmen. Während eines „Crunch“ arbeiten Entwickler zwölf bis 14 Stunden am Tag, auch am Wochenende. Oft über Monate.

„Ich kenne Leute, die hatten mit 30 einen Schlaganfall. Und gingen danach wieder arbeiten“, erzählte 2018 einer von Dutzenden Entwicklern anonym dem Investigativreporter Jason Schreier über seine Zeit bei Rockstar Games. Das Unternehmen mit 1200 Mitarbeitern in über acht Studios weltweit ist mit „GTA 5“ und „Red Dead Redemption 2“ für zwei der größten Open-World-Meilensteine der letzten Dekade verantwortlich.

„Manche kamen mit Schlafsäcken ins Büro“, verriet ein anderer. „Sie arbeiteten bis drei Uhr nachts, schliefen unter ihrem Schreibtisch und fingen um sechs Uhr morgens wieder an.“ Ähnliche Geschichten über Zustände permanenter Überarbeitung hörte man zu dieser Zeit aus vielen großen Studios, von Bioware in Kanada („Depressionen und Angstzustände waren epidemisch“) bis zum Smash-Hit „Fortnite“ bei Epic Games in Maryland, USA („Crunch war überall“).

„Crunch“ ist schon seit zwanzig Jahren der Status quo der Branche, der erste Skandal dieser Art erschütterte bereits 2003 den Konzern Electronic Arts. Er musste 30 Millionen Reparationen an seine Mitarbeiter zahlen. Noch 2017 hatte die Gamesbranche die höchste Fluktuationsrate von allen Industrien in den USA. Die Berichte waren wie ein Weckruf: Mit Game Workers Unite! gründete sich 2018 die erste Gewerkschaft der Videospielgeschichte.

US-Demokraten wie Bernie Sanders oder Alexandria Ocasio-Cortez schalteten sich per Twitter in die Debatte ein. Anfang des Jahres zog die Communications Workers of America nach, eine der größten Gewerkschaften der USA.

Arbeiten in der Games-Branche - das ist für viele junge Menschen mittlerweile ein Traumberuf. Es drängen - wie in den meisten kreativen Branchen - mehr Menschen hinein, als Jobs da sind. "Sei nicht in der Gamesbranche, wenn du nicht alle 80 Stunden pro Woche davon lieben kannst", so der DirectX-Entwickler Alex St. John. Das war lange die Maxime der Branche. Viele können und wollen ohne diesen Druck gar nicht leben. Doch was die einen als Leidenschaft verkaufen, wird für die anderen schnell zur Selbstausbeutung.

Vor allem junge Einsteiger erzählten, sie arbeiteten so viel aus Angst, ihren Job zu verlieren. Was für viele von ihnen eine reale Gefahr ist: Oft haben sie befristete Verträge und Massenentlassungen nach Ende einer Produktion sind nicht unüblich. Festangestellte werden oft für ihre Überstunden angemessen bezahlt. Andere nicht. Es mangelt an Transparenz und einheitlichen Standards.

Mit Kindern kaum zu vereinbaren

Auch wenn nicht alles schwarz-weiß gesehen werden sollte, ein Trend wird deutlich: Mehr als 40 Prozent der befragten Entwickler gaben in einer aktuellen Studie des größten Branchenverbandes IGDA an, aufgrund der extremen Belastungen die Spielebranche innerhalb von fünf Jahren nach Eintritt wieder verlassen zu wollen.

Das deckt sich mit Studien, die zeigen, dass der Altersdurchschnitt von Entwicklern bei 35 Jahren liegt und nur ein Drittel von ihnen Kinder hat. Anders gesagt: Der Lifestyle und die Opferungsbereitschaft, die die Branche fordert, ist für die wenigsten auf Dauer realisierbar. Sie müssen sich entscheiden – zwischen der Arbeit, die viele von ihnen lieben, ihrer langfristigen Gesundheit und dem möglichen Wunsch nach Familie.

Zumindest ein Teil der Unternehmen reagiert auf den öffentlichen Druck. Rockstar Games kündigte kürzlich an, „massive Veränderungen“ einzuleiten, um seine Mitarbeiter während der Entwicklung besser zu schützen. „GTA 6“ solle viel kleiner werden als frühere Spiele.

Zwei frühere Entwickler von Respawn Entertainment gründeten letzten Monat ein „Anti-Crunch-Studio“: „Die Gesundheit unserer Mitarbeiter wird absolute Priorität haben“, hieß es. Auch Studios im kleineren Indie-Bereich testen neue Arbeitsmodelle, teilweise mit viel Erfolg.

Die Branche am Scheideweg

Aber der letzte Bericht über extremen Crunch ist erst zwei Monate her. Wieder geriet eines der prestigeträchtigsten Studios der Welt, Naughty Dog, in Kalifornien, in den Fokus der Berichterstattung. Es wird am 19. Juni mit „The Last Of Us Part II“ den Spielesommer einleiten.

Der erste Teil galt 2013 als Meilenstein, wurde mit Preisen und euphorischen Kritiken überhäuft – so wie die meisten Spiele der Firma. Der Nachfolger solle noch ambitionierter werden, versprach die geliebte Spieleschmiede.

Der Fall bestätigt den Trend: 70 Prozent der Game-Designer in einfachen Positionen, die an dem letzten Spiel des Studios beteiligt waren, sollen Naughty Dog verlassen haben, und auch einer der Chefs, Bruce Straley, wegen Burn-out. Ein wütender Ex-Mitarbeiter behauptete auf Twitter im Nachhinein sogar: „Ein guter Freund von mir musste ins Krankenhaus wegen Überarbeitung. Und er hatte noch mehr als ein halbes Jahr vor sich.“

The Last Of Us Part II wird vermutlich wieder ein prägendes Meisterwerk dieser Generation. Viele sagen, sie lieben ihre Arbeit bei Naughty Dog. Doch genauso viele fragen sich – zu welchem Preis ist dieses „Meisterwerk“ entstanden? Und wie lange sollen die Menschen hinter den Spielen noch bereit sein, diesen zu bezahlen?

Es scheint: Nach Jahren, in denen das Problem „Crunch“ romantisiert oder einfach so hingenommen wurde, steht die Industrie beim Aufbruch in die neue Konsolengeneration am Scheideweg.

Giacomo Maihofer

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