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Viererbande mit Verdruss. Signe Larsen (Marie Bach Hansen, v.l.n.r.) und ihre Halbgeschwister Gro (Trine Dyrholm), Frederik (Carsten Bjørnlund) und Emil Grønnegaard (Mikkel Boe Følsgaard).
© obs

Dänen-Serie "Die Erbschaft": Von Struktur keine Spur

„Die Erbschaft“: Die zweite Staffel der herausragenden dänischen Serie seziert die Schattenseiten der 68er Kultur.

Die Rahmenbedingungen sind eigentlich perfekt. Vier Halbgeschwister wohnen nach dem Tod ihrer wohlhabenden Mutter gemeinsam im geerbten Landhaus. Die verzweigte Patchworkfamilie bietet Platz für alle, Geldsorgen gibt es auch nicht. Wo ist das Problem? Eine Arte-Serie porträtiert moderne, aufgeschlossene Menschen, die ihre freie Entfaltung dazu nutzen, um sich gegenseitig das Leben schwer zu machen.

„Die Erbschaft“ zeigt eindrucksvoll, dass Skandinavier mehr können als morbide Krimis. Arte strahlte die erste Staffel des komplexen Familienporträts schon 2016 aus. In der Fortsetzung schildert die dänische Serie nun, warum das Zusammenleben in der Bohème-Enklave allmählich aus dem Ruder läuft. Zu Überraschung ihrer drei erwachsenen Kinder hat die verstorbene Veronika Grønnegaard, eine international bekannte Künstlerin, ihr villenartiges Gut ihrer unehelichen Tochter Signe Larsen (Marie Bach Hansen) vermacht. Die junge Floristin ahnte nichts von ihrer prominenten Mutter. Sie wuchs in einer Unterschichtfamilie zu einer bodenständigen Frau heran, die nun das Beste aus ihrem unverhofften Erbe machen will. Ihr geplanter Anbau von Industriehanf nimmt Gestalt an. Doch das permanente Störfeuer aus den Reihen ihrer verwöhnten Halbgeschwister wirft sie immer wieder zurück.

Zu Spannungen kommt es besonders mit Veronikas ältester Tochter Gro, die den künstlerischen Nachlass der Mutter verwaltet. Seltsamerweise tauchen dabei immer wieder unbekannte Werke der verstorbenen Bildhauerin auf, die auf dem Kunstmarkt viel Geld einbringen. Doch warum steht Gro, hervorragend gespielt von der dänischen Starakteurin Trine Dyrholm, immer unter Strom? In Thailand lebt derweil Emil (Mikkel Boe Følsgaard), das labile Nesthäkchen der Familie, im Partymodus. Als ihm aufgrund einer Anklage wegen Drogenhandels eine zehnjährige Haftstrafe droht, zieht sein älterer Bruder Frederik (Carsten Bjørnlund) los, um ihn aus dem thailändischen Gefängnis zu retten. Dabei muss der Rechtsanwalt herausfinden, dass der kleine Bruder maßgeblichen Anteil daran hat, dass seine Ehe zerbricht.

Hypnotische Dichte

In der Zusammenfassung klingt das plakativ. Doch beim Zuschauen entfaltet die gemächlich inszenierte Serie eine hypnotische Dichte. Das horizontale Erzählen des siebenteiligen Formats leuchtet die zahlreichen Charaktere nuanciert aus. Man möchte zuweilen in den Fernseher hineinspringen und die somnambulen Tagträumer wachrütteln.

Maßgeblichen Anteil am Gelingen der ungewöhnlichen Serie hat Jesper Christensen, und zwar vor und hinter der Kamera. International bekannt als JamesBond-Bösewicht Mr. White, führt er Regie und spielt Thomas, den verpeilten Vater der Grønnegaard-Geschwister. Als Inbegriff eines Alt-68ers verkörpert der verkrachte Musiker das leere Zentrum in dieser Villa Kunterbunt. Thomas ist hedonistisch und verantwortungslos. Er hat mit der wesentlich jüngeren Isa (Josephine Park) ein Kind gezeugt. Doch die verstörte junge Frau, eine psychotische Borderline-Persönlichkeit, die ihren Säugling wie einen Fremdkörper wahrnimmt, müsste dringend in Behandlung. Stattdessen irrlichtert Isa durch dieser turbulente WG. Die Grønnegaard-Geschwister finden es nämlich cool, eine kleine Halbschwester zu haben, um die sich reihum jeder mal kümmert.

Manchmal kann man kaum noch hinsehen. So inszenieren die Kommunarden für Isas Kind eine „indianische Taufe“. Doch das prätentiöse Ritual gipfelt in einer Beinahe-Katastrophe von kaum vorstellbarer Skurrilität. Mit ihren treffsicheren Beobachtungen übt die mehrfach preisgekrönte dänische Serienschöpferin Maya Ilsøe aber keine Gesellschaftskritik, sondern Kritik an denen, die Gesellschaft für alles verantwortlich machen. Als „Kind der 68er“ weiß Ilsøe, wovon sie erzählt. Souverän arbeitet ihre Serie heraus, warum es in dieser anfangs so idyllisch erscheinenden Komfortzone ungemütlich wird. Gesetze werden gebrochen und Absprachen nicht eingehalten: Von Struktur keine Spur. Will jemand aus dem diffusen Psychokrieg ausscheren, dann machen ihn die anderen zum Mitwisser beim Vertuschen krimineller oder zumindest halb legaler Machenschaften. Die alternative Lebensform, so die gallige Pointe, erweist sich als mafiöser Clan-Verbund.

„Die Erbschaft“, Arte, Donnerstag, um 20 Uhr 15

Manfred Riepe

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