Stimmen des Exils- Zum Tag der Menschenrechte: Vom Hubschrauber gestoßen?
Zwei Dorfbewohner sind in der Türkei möglicherweise gefoltert worden. Der Fall erinnert an die Zustände in den 90er Jahren.
Menschenrechte sind ein Thema, wovon wir aktuell täglich lesen. Leider aber oft nicht positiv: Entweder die Menschenrechtsverletzungen bestehen weiter oder sie nehmen sogar zu in der ganzen Welt. Gewalt von den Staatssicherheitsbehörden wird oft nicht bestraft. Die Täter sind unbekannt.
Die Samstagsmütter erinnern an ihre verschwundenen Söhne und Töchter
In den 90ern war es schlimm in der Türkei. Menschen starben in Haft, sie verschwanden plötzlich, dann wurden ihre Leichen nach Tagen, manchmal Monaten, irgendwo im Freien gefunden. Die Täter sind meistens nicht bestraft worden. Bis 1995 gab es 908 Fälle, deren Täter nicht gefunden wurden. Der Europäische Gerichtshof hat die Türkei mehrmals dazu verurteilt, an die Familien der Ermordeten Entschädigung zu bezahlen. Wegen dieser Fälle gibt es in der Türkei eine regelmäßige Demonstration, inspiriert durch die Mütter der Plaza de Mayo in Argentinien: Die Samstagsmütter. Diese treffen sich an jedem Samstag seit Mai 1995 vor dem Galatasaray-Gymnasium in Istanbul, um zu fordern, dass ihre verschwundenen Söhne und Töchter gefunden werden bzw. dass die Täter der Ermordeten aufgespürt werden.
Kameras in jedem Gebäude der Polizei
Anfang der 2000er fand in der Türkei eine Erneuerung der Sicherheitsbehörden statt. In jedem Gebäude der Polizei mussten Kameras aufgehängt werden, um eine mögliche Folter zu verhindern. Das führte teilweise zum Erfolg. Viele Fälle konnten mit der Kamera bewiesen werden, doch gab es auch Versuche, die Aufzeichnungen zu löschen.
Nun aber gab es im September 2020 gab es einen sehr schlimmen Fall, der an die 90er Jahre erinnert. Zwei Dorfbewohner, Servet Turgut (64) und Osman Şiban (50), wurden in der im Osten der Türkei gelegenen Stadt Van am 11. September von Soldaten, die von einer Operation zurückkamen, festgenommen. Das Dorf wurde im Jahr 1989 geräumt, weil es in dieser Gegend Operationen gegen die PKK gab. Die Dorfbewohner*innen mussten auswandern in den Süden der Türkei. Nach Jahren, erst im Jahr 2016, bekamen sie die Erlaubnis, Ackerbau in ihrem alten Dorf zu betreiben, so dass sie in jedem Jahr zwischen Mai und Oktober im Dorf bleiben und ihr Land bewirtschaften.
Vom Hubschrauber gestoßen
Laut Bewohnern des Dorfes sollen Soldaten zu ihnen gekommen sein und gesagt haben, dass sie ihre Rache für die ermordeten Soldaten nehmen, die in der Operation gegen die PKK gestorben sind. Daraufhin haben sie angefangen Menschen zu verprügeln. Danach wurden die beiden Dorfbewohner festgenommen und mit einem militärischen Hubschrauber in den Militärbereich von Van gebracht. Nach Osman Şibans Angabe sollen die Soldaten nach der Landung beide Dorfbewohner vom Hubschrauber gestoßen haben. Anschließend sollen mehr als 100 Soldaten die beiden verprügelt und am Boden getreten haben. Zwei Tage später wurden beide Dorfbewohner von Soldaten ins Krankenhaus gebracht. Beide wurden schwer verletzt. Servet Turgut ist nach diesem Fall ins Koma gefallen und nach 20 Tagen im Krankenhaus gestorben.
Der Fall wurde durch vier Journalist*innen ans Licht gebracht, die daraufhin im Oktober wegen dieser Berichterstattung verhaftet wurden. Diese Journalisten hatten ein ärztliches Attest erhalten, auf dem steht, dass die Dorfbewohner vom Hubschrauber gestürzt sind. Dieselbe Aussage sollen die Soldaten gemacht haben, als sie die verletzten Dorfbewohner ins Krankenhaus gebracht haben. Die Verletzungen, die in dem Attest dokumentiert wurden, sind aber mit hoher Sicherheit auf Folter zurückzuführen.
Folter verschleiern?
Danach hat das unabhängige Mitglied des türkischen Parlaments, Ahmet Şık, der auch früher wegen seiner journalistischen Tätigkeiten zweimal verhaftet wurde, einen detaillierten Bericht veröffentlicht, in dem auch die Aussagen des überlebenden Opfer Osman Şiban festgehalten sind.
Bis zur Veröffentlichung des Report von Şık beschränkten sich die Diskussionen nur auf die Tatsache, ob die beiden aus dem stehenden oder fliegenden Hubschrauber gefallen sind. Der Report betont aber, dass davon unabhängig aus den Verletzungen auf eine Folter zu schließen ist, die durch den Sturz aus dem Hubschrauber verschleirt werden soll.
Der türkische Innenminister Süleyman Soylu hat im Fernsehen über den Fall geredet - aber anstatt auf die Foltervorwürfe einzugehen, hat er nur Aussagen über den Sturz aus dem Hubschrauber gemacht. Er sagte, die Hubschraubertür könne vor der Landung nicht geöffnet worden sein, sie öffnet sich erst, wenn der Boden nur noch kurz entfernt sei. Der Innenminister behauptete auch, der eine Dorfbewohner solle Kontakt zu den Terroristen haben, der andere sei festgenommen worden, weil er sich dubios verhalten haben und vor den Polizisten weggerannt sein soll.
Die Bemerkung, dass die Tür nicht geöffnet werden könne, ist einerseits falsch und andererseits erklärt das trotzdem nicht die schlimmen Verletzungen der Dorfbewohner. Kontakt zu Terroristen kann darüber hinaus keine Rechtfertigung für Gewalt sein.
Keine Antwort auf die Briefe des Amnesty International
Amnesty International veröffentlichte nach dem Fall eine Pressemitteilung, in der sie an den Staat appellierten, dass das Verfahren unabhängig geführt werden soll, um diese Behauptungen zu klären.
"Wir haben noch keine Antwort auf unsere Briefe an die zuständigen Behörden erhalten", sagt Milena Buyum, Kampagnenleiterin des Amnesty International Türkei. "Servet Turgut ist gestorben und Osman Şibans Wunden sind immer noch nicht geheilt. Es gibt Zeugen, die gesehen haben, wie die beiden Dorfbewohner gesund in den Hubschrauber gebracht wurden. Folter ist in jedem Fall verboten. Dieses Verbot gilt gesetzlich sowohl in der Türkei als auch in der Welt durch die Internationalen Menschenrechtsstandards. Dieses Verbot muss ohne Zusammenhang mit der Identität bzw. mit der begangenen Straftat durchgesetzt werden", sagt Buyum.
Sie findet, die aktuellen Fälle der Folter in Haft und die Misshandlungen könnten nicht mit den Fällen der 90er Jahre verglichen werden. Allerdings sagt sie, die Anzahl der Misshandlungen in Haft sei in den letzten Jahren stark gestiegen. Jeder Fall müsse von unabhängigen Behörden untersucht werden, sagt Milena Buyum und fügt hinzu: Leider gibt es keine genügenden und abschreckenden Konsequenzen.
Osman Kavala und Selahattin Demirtaş immer noch in Haft
Diese Vorkommnisse zeigen, dass auch heute am Tag der Menschenrechte die Freiheiten der Menschen in dem europäischen Nachbarland Türkei bedroht sind. Wegen der Corona-Pandemie sind über 90.000 Gefangene im April entlassen worden, ausgenommen politische Insassen. Obwohl der Europäische Gerichtshof die Türkei im Fall von dem Ex-Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und dem renommierten türkischen Bürgerrechtler Osman Kavala dazu gefordert und verurteilt hat, dass die Verhaftungen Menschenrechtsverletzung sind, bleiben sie immer noch in Haft.
Dieser Text erscheint im Rahmen des Projekts "Stimmen des Exils" von Tagesspiegel und Körber-Stiftung. Der Tagesspiegel veröffentlicht seit 2016 regelmäßig Texte von Exiljournalist*innen unter dem Titel #jetztschreibenwir. Die Körber-Stiftung macht in ihrem Fokusthema „Neues Leben im Exil“ die journalistischen, künstlerischen, politischen oder wissenschaftlichen Aktivitäten exilierter Menschen in Deutschland sichtbar. Dafür kooperiert sie z.B. mit den Nachrichtenplattformen „Amal, Berlin!“ und „Amal, Hamburg!“ oder organisiert Fachveranstaltungen (Exile Media Forum). Mehr Beiträge zum Tag der Menschenrechte finden Sie hier - ein Video von „Amal, Berlin“-Redakteurin Amloud Alamir über die Menschenrechtlerin Joumana Seif, deren Familie verschwunden ist. Sie kämpft für die Rechte politischer Gefangener in Syrien.
Isa Can Artar