"Polizeiruf 110" aus Rostock: Statt Terror nun dumpfe Vorurteile
Nach zwei Programmänderungen wegen des Terroranschlages in Berlin läuft nun am Sonntag im Ersten anstelle eines "Tatort" aus Dortmund ein "Polizeiruf" aus Rostock. Doch das Ziel, einen passenderen Krimi zum Jahresanfang zu präsentieren, hat die ARD damit verfehlt.
„Der ‚Polizeiruf 110: Angst heiligt die Mittel‘ ist ein zutiefst berührendes und exzellent gespieltes Krimidrama mit den Publikumslieblingen Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner. Mit seiner präzisen Milieuschilderung und dem spannungsreichen Plot erscheint uns dieser ‚Polizeiruf‘ ideal geeignet, den Zuschauerwünschen am Neujahrsabend zu entsprechen.“ So kündigte ARD-Programmchef Volker Herres die Ausstrahlung des NDR-„Polizeiruf 100“ am Neujahrstag an – nachdem an diesem Platz zunächst ein Terror-„Tatort“ aus Dortmund und später eine „Tatort“-Episode mit Devid Striesow aus Saarbrücken gezeigt werden sollte.
Jede Begründung ist besser als gar keine, doch über diese muss man sich als Kritiker nach Ansicht von „Angst heiligt die Mittel“ wundern. Das Erste hatte sich aus „Rücksicht auf die Opfer, ihre Angehörigen, Betroffene und das Empfinden von Zuschauern“ entschieden, den Dortmund-„Tatort“ erst später zu zeigen, weil darin ein islamistischer Terroranschlag gezeigt wird. Nach dem LKW-Anschlag auf Besucher des Weihnachtsmarktes auf dem Berliner Breitscheidplatz, bei dem zwölf Menschen starben und 50 Personen zum Teil schwer verletzt wurden, erschien der ARD die Ausstrahlung dieser Folge nicht mehr opportun. Doch dieser „Polizeiruf“ ist kaum besser geeignet zur Einstimmung der ARD-Zuschauer auf das neue Jahr.
Verantwortung als Filmschaffende
Die Episode (Buch: Susanne Schneider, Regie: Christian von Castelberg) beschreibt auf nachdrückliche Weise, wozu dumpfe Vorurteile von Kleinbürgern führen können. Oder wie es Charly Hübner als Darsteller von Kommissar Alexander Bukow ausdrückt: „Die Ohnmacht, wenn man dieses Thema an sich heranlässt, ist spürbar. Immer. Ein seelisch-obsessiver Mann, der Frauen vergewaltigt, und ein Mann, der pädophil veranlagt ist, sind für den bürgerlich erzogenen Menschen eine bedrohliche Kraft. Auch wenn man meint, das cool analysieren zu können, ist das Potenzial dieser Taten wahrlich bedrohlich. Da wollte die Autorin hineinleuchten, und wir sind ihr dabei gefolgt.“ Ähnlich sieht es auch Anneke Kim Sarnau, die im Rostocker „Polizeiruf“ die LKA-Profilerin Katrin König spielt: „Wir haben ja auch eine Verantwortung als Filmschaffende, das habe ich noch nie so stark gespürt wie bei diesem Film“, sagt sie.
Zur Handlung: In dem Dorf Bassow nahe Rostock wird ein Frau, bei der es sich um eine ortsbekannte Obdachlose handelt, auf einer Parkbank gefunden. Vor ihrem Tod wurde sie misshandelt und vergewaltigt. Die Dorfgemeinschaft verdächtigt sofort zwei kürzlich entlassene Straftäter, die in dem Ort ein Haus bewohnen. Peter Buschke (Maciej Sakanib), der wegen seiner pädophilen Neigung in Behandlung ist, hält die Schmierereien am Haus („Kinderficker raus“) kaum noch aus, sein Mitbewohner Martin Kukulies (Markus John), der wegen Vergewaltigung gesessen hat, ärgert sich dagegen mehr darüber, dass Buschke beim Einkauf sein Bier vergessen hat. Bei den Ermittlungen verstricken sich aber auch die anderen Dorfbewohner in Ungereimtheiten. Am nächsten Tag wird Buschke erhängt aufgefunden, Kukulies ist spurlos verschwunden. Handelt es sich um einen Fall von Selbstjustiz? Das Mitgefühl der Dorfbewohner für die beiden Toten hält sich jedenfalls in engen Grenzen, wer der Täter ist, steht für sie außer Frage.
Erschreckende Aktualität
Das zentrale Ziel hat die Krimi-Rochade im Ersten aber auch aus einem anderen Grund verfehlt. Auch der „Polizeiruf“ behandelt ein Thema, das durch einen realen Vorfall eine erschreckende Aktualität erhalten hat. Am vergangenen Sonntag haben sieben Männer an der Berliner U-Bahnhaltestelle Schönleinstraße einen schlafenden Obdachlosen angezündet. Er überlebte, weil Zeugen das Feuer schnell löschten.