Die "Lindenstraße" und die Bundestagswahl: Smiley zur GroKo?
Fiktion & Realität: Wie die Bundestagswahl am Sonntag abends noch aktuell in die „Lindenstraße“ kommt.
Ist Hans W. Geißendörfer ein Intellektueller, der die politische Debatte mit den Mitteln des Unterhaltungsfernsehens prägen könnte? Die Frage hatte sich in den Anfangsjahren von Geißendörfers TV-Dauerserie „Lindenstraße“ von selbst beantwortet, als der Produzent und Regisseur Sonntag für Sonntag Themen wie Atomkraft, Rassismus, Homo-Ehe oder Ausländerfeindlichkeit thematisieren ließ und damit bis zu fünf Millionen Zuschauer vor den Bildschirm zog.
Von solchen Effekten ist die „Lindenstraße in ihrem 32. Jahr weit entfernt, zuletzt ging sie sogar erstmals in die Sommerpause. Wenn es am Abend der Bundestagswahl spannend wird, will man aber wieder nah dran sein an der Realität. Dann schauen Mutter Beimer & Co. gebannt auf den Fernseher und kommentieren die aktuellen Ergebnisse. Die Macher haben in den vergangenen Tagen verschiedene denkbare Szenarien gedreht und werden die passende Episode kurzfristig in die fertige Folge einfügen.
Der Fernseher, auf den die Schauspieler schauen, war vor Wochen, zum Zeitpunkt des Drehtermins, schwarz. Kurz vor der Ausstrahlung am Sonntagabend wird die 18-Uhr-Wahlprognose eingebaut. Diese Szene kommt erst gegen Ende der Sendung, damit möglichst viel Zeit bleibt, um sie einzufügen. Diesmal hat Geißendörfers Team mehr Zeit dafür. Die „Lindenstraße“ läuft nicht wie gewohnt um 18 Uhr 50 in der ARD, sondern erst um 19 Uhr 45 Uhr im ARD-Sender One.
Der Eindruck eines inhaltslosen Wahlkampfes
Solcherlei Aktualisierungen haben bei der „Lindenstraße“ Tradition – nicht nur zu Bundestagswahlen. Denn auch wenn die Serie im Laufe ihres über 30-jährigen Bestehens Zuschauer verloren hat, auch wenn einstige Aufreger wie der erste Schwulen-Kuss im Fernsehen längst Geschichte sind, an einem halten die „Lindenstraße“ und ihre Autoren bis heute fest, auch unter der Ägide von Geißendörfers Tochter Hana, die 2015 in die Produktion mit eingestiegen ist: am Versuch, bei politisch oder gesellschaftlich relevanten Themen am Puls der Zeit zu sein.
Das gelingt mithilfe kleiner Episoden, die erst kurz vor der Ausstrahlung gedreht und nachträglich in die Folge eingebaut werden. Oft handelt es sich dabei um einen Dialog, in dem sich zwei Bewohner über ein gerade aktuelles Thema unterhalten – seien es umstrittene Äußerungen eines Politikers, Bundestagsentscheidungen oder Naturkatastrophen.
Die erste Aktualisierung zu einer Bundestagswahl gab es im Dezember 1990. Damals wurde die „Elefantenrunde“ der Spitzenpolitiker eingespielt, kommentiert von Benny Beimer (Christian Kahrmann). Im Jahr 1998 mischte die „Lindenstraße“ beinahe selbst im Bundestagswahlkampf mit. Die Serien-WG stellte den Vietnamesen Gung als alternativen Kanzlerkandidaten zu Helmut Kohl und Gerhard Schröder auf. In der Woche vor der Wahl wurden vielerorts in Deutschland „Wählt Gung“-Plakate geklebt. Fiktion und Realität verschränkten sich. „Damit haben wir die beste Form gefunden, um gegen diesen inhaltslosen Wahlkampf zu protestieren“, sagte damals Produzent Geißendörfer. Bei der Wahl waren dann angeblich sogar eine Reihe Stimmzettel ungültig, weil Wähler darauf den Namen Gung ergänzt und angekreuzt hatten.
Der Eindruck eines inhaltslosen Wahlkampfes hat sich diesmal auch aufgedrängt. Wer soll Kanzler werden? Merkel? Schulz? Präferenzen lässt Geißendörfers Produktion offen. Drei Varianten seien vorbereitet worden, sagt WDR-Redakteur Götz Schmedes. „Wir haben uns dabei auf jüngste Wahlumfragen gestützt und hoffen, dass wir am Ende so konkret wie möglich und so vage wie nötig sind.“ Welche Varianten (Gesichtsausdrücke) je nach Wahlausgang gewählt werden, soll aktuell entschieden werden. Fragt sich nur, ob eine etwaige GroKo mehr Freude oder Enttäuschung bei den Beimers hervorrufen wird. (mit dpa)
„Lindenstraße“, Sonntag, One, 19 Uhr 45
Markus Ehrenberg