Internet und Autismus: Schreiben wird Gold
Internet und Autismus – wie passt das zusammen? Die digitale Welt bietet Betroffenen nicht nur Arbeitsplätze, sondern erleichtert auch die Kommunikation.
Katrin Moser ist 28 Jahre alt, lebt in Ostfriesland, arbeitet als Journalistin und Heilpraktikerin und schreibt in ihrer Freizeit einen Blog. So weit, so unspektakulär. Aber Katrin Moser ist keine gewöhnliche Bloggerin. Spontanes Plaudern außerhalb des Internets fällt ihr schwer: „Ich brauche Zeit, damit die Worte richtig sind. Damit ich genau das sage, was ich meine. Wenn ich eine Pause mache, um zu durchdenken, was ich wie sagen will, fangen die meisten Menschen schon an, irgendwas zu plappern.“ Auch Begrüßungen empfindet sie oft als anstrengend: „Wenn man jemanden kennt, reicht ein einfaches Hallo. Bei Fremden reicht das nicht. Denen muss man die Hand geben. Die Berührung ist wie ein Stromschlag, unangenehm. Ich weiß nicht, wo ich hin soll.“
Autisten haben oft Probleme, Mimik und Gesten zu entschlüsseln
Das Unbehagen, das sie schon lange mit sich herumträgt, hat in den letzten eineinhalb Jahren einen Namen bekommen: Autismus. Auf ihrem Blog (http://seinsdualitaet.de/) hat Katrin Moser indirekt die Geschichte ihrer Diagnose aufgeschrieben. Denn dort führt sie seit Herbst 2013 einen öffentlichen Dialog mit ihrem Therapeuten. Doch wer verzweifelte Hilferufe auf der einen und kluge Ratschläge auf der anderen Seite erwartet, wird enttäuscht. Es ist ein Gespräch auf Augenhöhe. „Wir beide bekamen Einblicke in komplett neue Gedankenwelten, wir sprachen über Wirklichkeitskonstruktionen und Realität und stellten jeder immer wieder für sich fest, dass alles Erleben von zwei komplett verschiedenen Warten aus betrachtet wurde“, erzählt Moser. Die Schriftform kommt ihr dabei sehr entgegen. „Ich muss nicht auf Mimik und Gestik meines Gegenübers achten und ich muss auch gleichzeitig nicht darauf achten, dass mein Gesicht ‚richtig’ beim Gegenüber ankommt.“ Mit Problemen wie diesen beschäftigt sich mittlerweile auch „N#mmer“: Ein eigenes Magazin für Autisten und ADHS-Betroffene. Die Erstausgabe erschien im vergangenen Dezember.
Von Autismus ist nach Schätzung des Bundesverbands Autismus Deutschland e.V. hierzulande knapp ein Prozent der Bevölkerung betroffen. Die Ausprägungen der Entwicklungsstörung variieren stark. Unterschieden wird zwischen „frühkindlichem Autismus“, der oft mit kognitiven Einschränkungen einhergeht, dem „Asperger-Syndrom“ sowie dem „atypischen Autismus“. Die Übergänge sind allerdings fließend, so dass man in der Forschung mittlerweile von „Autismus-Spektrum-Störungen“ (ASS) spricht. Typisch für ASS sind Schwierigkeiten bei der Kommunikation und der sozialen Interaktion. Autisten vermeiden häufig Blick- und Körperkontakt, sie können nonverbale Signale – Gesichtsausdrücke oder Gesten – nur schwer deuten, sie tun sich schwer mit veränderten Handlungsabläufen und ungewohnten Umgebungen. Deshalb mögen sie Routine und Rituale.
Menschen mit Asperger-Syndrom verfügen oft über enorme Begabungen in bestimmten Teilbereichen, viele sind sehr technikaffin. Friedrich Nolte, Fachreferent beim Bundesverband, beobachtet das schon seit Langem: „Binäre Strukturen, die Wahl zwischen O oder 1 – das kommt vielen Autisten sehr entgegen. Weil es klar ist und nicht so viele verwirrende Interpretationsmöglichkeiten bietet. Generell liegt vielen Menschen mit Autismus systematisches Denken.“ Das macht sie zu perfekten Arbeitnehmern, wenn es um Datenbanken, Logik, Präzision, Mustererkennung oder Fehlerkontrolle geht. Der Softwarehersteller SAP hat bereits vor zwei Jahren angekündigt, bis 2020 weltweit hunderte Autisten einstellen zu wollen. Seit drei Jahren vermittelt die Berliner Firma auticon ausschließlich Menschen mit Asperger-Syndrom als IT-Berater. Die Nachfrage ist groß; mittlerweile unterhält auticon auch Standorte in München, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Stuttgart und Hamburg.
"Wired" mutmaßte, Autismus-Diagnosen würden an Nerd-Eltern liegen
Autismus – das klingt im Volksmund sowieso irgendwie nach Nerds. „Auch viele Nicht-Betroffene kokettieren mittlerweile mit ihrem vorgeblichen Autismus“, sagt Nolte. Das US-Magazin Wired stellte vor einiger Zeit sogar die These auf, dass die gestiegenen Autismus-Diagnosen bei Kindern im Silicon Valley direkt mit der genetischen Disposition ihrer technikaffinen und soziophoben Nerd-Eltern zusammenhängen könnten. Friedrich Nolte, der selbst in den USA gearbeitet hat, ist mit solchen Vermutungen vorsichtig. „Eventuell gibt es einen Zusammenhang, aber die auffällige Häufung könnte ebenso gut damit zu tun haben, dass amerikanische Familien dorthin ziehen, wo sie eine gute Infrastruktur für ihre autistischen Kinder vorfinden.“ Generell findet er es problematisch, wenn in der öffentlichen Wahrnehmung Autismus mit IT-Spezialist gleichgesetzt wird. „Nur eine kleine Teilgruppe verfügt über die dafür erforderliche Begabung.“
Trotzdem kommen vielen Autisten Digitalisierung, Internet und Touchscreens entgegen. „Vielen Menschen, die unter kommunikativen Einschränkungen leiden, hat schon die Erfindung der SMS sehr geholfen“, erklärt Nolte. Denn vielen Autisten fällt es schwer, andere Menschen anzurufen oder spontan ans Telefon zu gehen, wenn es klingelt. Die schriftliche Kommunikation, egal ob sie über E-Mails, Chats, Foren oder Blogs läuft, erlaubt es den Betroffenen, Tempo und Zeitpunkt der Kommunikation selbst zu bestimmen.
Wo die Worte fast ganz fehlen, helfen Visualisierungsprogramme, um mit der Umwelt in Kontakt zu treten. Der heute 15-jährige Autist Max Kröber aus Berlin hatte früher oft Schwierigkeiten, seine Wünsche und Bedürfnisse verbal auszudrücken. Vor drei Jahren erkrankte er schwer, lag auf der Intensivstation. Wie intensiv seine Schmerzen waren oder ob die Medikamente anschlugen, konnte er seiner Mutter Doreen nur schwer mitteilen. Zunächst nutzten die beiden „Grace“, eine einfache iPad-App für unterstützte Kommunikation. Doch die App half ihnen nur bedingt, wichtige Bilder und Funktionen fehlten. Doreen Kröber beschloss, eine eigene Kommunikations-App für Menschen mit Autismus zu konzipieren. Max half bei der Planung, suchte Bilder aus, legte Ordner und Grafiken fest und erledigte die Testdurchläufe.
Die App "Let me talk" erleichtert die Kommunikation
„LetMeTalk“ heißt die Gratis-App, die die beiden gemeinsam mit einem Designer und einem Programmierer auf den Markt gebracht haben. Mit wenigen Klicks lassen sich aus kurzen Textbausteinen, Verben und Substantiven einfache Sätze zusammenstellen: „Ich möchte / Kuchen.“ Oder: „Doch / mir geht es gut.“ Mittlerweile wurde die App über 50 000 Mal heruntergeladen und wird längst nicht nur von Eltern und Kindern mit Autismus benutzt. Besonders glücklich ist Doreen Kröber darüber, dass die App auch in Schulklassen verwendet wird. Hier helfen die einfachen Aussagen und die integrierte Übersetzungsfunktion auch, Sprachbarrieren zwischen Flüchtlingskindern und Lehrern zu überwinden. Max selbst ist mittlerweile aus der App herausgewachsen. „Er redet“, sagt seine Mutter, „und ist natürlich bei WhatsApp. Ganz normal, wie andere Teenager auch.“ Nur manchmal wird ihm das Brummen und Piepen des Smartphones zu viel. „Dann schaltet er es aus.“ Mutter und Sohn haben zusammen trainiert, dass man im Internet auch filtern können muss.
Auch Katrin Moser ist das Netz, bei aller Begeisterung für digitale Kommunikation, manchmal zu schnell und zu chaotisch. Vor allem in sozialen Netzwerken sei sie häufig irritiert und könne „das Gewusel“ nicht verstehen. „Wenn Diskussionen eine nicht zu steuernde Eigendynamik bekommen, ergreife ich virtuell die Flucht.“ Vorteil: Im Internet ist das erlaubt. Im realen Leben müsste man sich rechtfertigen, wenn man mitten im Gespräch aus dem Raum stürmt. So macht Katrin Moser den PC aus. „Dann habe ich sofort meine Ruhe.“
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