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Ob SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz diese Fans wirklich geholfen haben, ist ungewiss. Gewiss ist, dass die Wahlarenen bei ARD, RTL und ZDF durch die Live-Konfrontation der Politiker mit Bürgern den TV-Wahlkampf lebendig gemacht haben.
© Jens Büttner/dpa

TV-Wahlkampf: Muttis Beauty Palace

Gesunde Wut, Leberwurst-Alarm und journalistische Demobilisierung. Beobachtungen zum Wahlkampf-Fernsehen.

Kartoffelsuppe

Die mediale Allzweckwaffe der Kanzlerin: Kartoffelsuppe. Sie ist das Mantra ihrer medialen Menschwerdung. Die Kartoffelsuppe wird in jedem Bundestagswahlkampf aufgekocht und die Medienmenschen sind von ihrer investigativen Kraft begeistert. Dieses Jahr endlich enthüllt: Stampfen nicht pürieren!

Wölfin im Schafspelz

Frauke Petry war in der Kindernachrichtensendung „Logo!“ zu Gast und stellte sich den Fragen von Kinderreporter Edgar und „Logo!“-Reporter Tim. Geht's noch? Die AfD ist keine normale Partei, bekommt hier aber eine Normalitätsfassade verpasst. Dass die Partei ein Sammelbecken für rassistische, antisemitische und revanchistische Diskurse ist, lässt sich in diesem Format nicht analysieren. Die Wölfin hat Kreide gefressen und schleicht ins Kinderzimmer.

TV-Duell

Katherine Hepburn und Spencer Tracy waren 26 Jahre heimlich ein Paar, niemand im Sündenpfuhl Hollywood wusste davon. Vermutlich werden Historiker Ähnliches über Merkel und Schulz herausfinden. Das „TV-Duell“ war ein Anschmachten. Die Kanzlerin wirkte geradezu euphorisch, Schulz versuchte sie mit Lyrik, Hollywood-Pathos und Lobgesängen zu elektrisieren. Die vier Moderatoren standen sich selbst im Weg, vier sind drei zu viel. Insbesondere der Kanzlerkandidat wurde von den Journalisten respektlos behandelt. Hartes Nachfragen und grobe Unhöflichkeit sind zwei Paar verschiedene Schuhe.

Claus Strunz

Der Mann ist das fleischgewordene Argument, dass die öffentlich-rechtlichen Sender unverzichtbar sind. Im „TV-Duell“ verwechselte er aggressives Volksempfinden mit Journalismus. In der Sat-1-Dating-Show „Die zehn wichtigsten Fragen der Deutschen“ agierte er wie ein Swinger-Club-Betreiber. „Sie finden ihn scharf?“, so pries er Christian Lindner an.

Nichts wie weg. AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel stürmt aus der ZDF-Sendung „Wie geht’s Deutschland?“
Nichts wie weg. AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel stürmt aus der ZDF-Sendung „Wie geht’s Deutschland?“
© dpa

Bürgerinnen und Bürger

Die Town-Hall-Meetings in ARD, ZDF und auf RTL sind die spannendsten Fernsehformate dieses Wahlkampfes. Der Bürger zeigt sich mündig, kompetent, angriffslustig, hier ist ein deutlicher Erfahrungs- und Gefühlsstau festzustellen. Das Privatfernsehen denunziert die Menschen in seinen Scripted-Reality-Formaten, gerade deshalb muss das öffentlich-rechtliche Fernsehen den Bürger endlich entdecken, endlich als Programm-Stimulus wahrnehmen. Die Town-Hall-Meetings funktionierten wie die Mauerschau, die Teichoskopie im antiken Drama. Man schaute mit den Bürgern ins Land, sah die Dramen, die Nöte, die Alltagskämpfe. Hier zeigte sich auch gesunde Wut, wenn die Bürger beharrlich und emotional etwa den Pflegenotstand oder Altersarmut thematisierten und die Wahlkämpfer nicht vom Haken ließen.

Daher wurden auch die Politiker in diesen Arenen kenntlich. Schulz, der mitfühlende Kümmerer, suchte Körperkontakt und vernetzte seine Biografie wieder und wieder mit der der Bürger („Ich bin der Sohn eines Polizeibeamten“). Merkel eher sachnah als volksnah, eher analytisch als empathisch, eher körperscheu als kumpelig.

Einer der spannungsvollsten Momente war in der Wahlarena in der ARD zu sehen, als sich Martin Schulz gegen den Vorwurf einer Bürgerin zur Wehr setzen musste, ihm sei ihr Schicksal gleichgültig. Schulz brachte die unlösbare Aufgabe eines Spitzenpolitikers widerspruchsvoll auf den Punkt: „Für mich steht jeder Einzelne im Mittelpunkt, aber ich kann nicht 82 Millionen Einzelschicksale behandeln.“ Merkel argumentierte meist von oben nach unten, Schulz versuchte von unten nach oben zu deuten, beide Perspektiven produzierten blinde Flecken. Merkel war die sachkundigere Generalistin, Schulz war der leidenschaftlichere Erzähler. Beide Politiker beklagten den Formatzwang: „Geben Sie mir 60 Sekunden!“ (Schulz) und „Sitzt uns schon wieder das ,Heute-Journal’ im Nacken“ (Merkel). Die Journalisten, die Bürger und die Politiker sind Gefangene im Programmfluss. Ein Armutszeugnis, System-Sklerose.

Speed Dating

Mit Formaten wie „Überzeugt uns! Der Politikercheck2 (ARD) und „Wähl mich!“ (ZDF) sollten junge Zuschauer für Politik interessiert werden. Das ging gründlich schief! Schiefer! Die Politiker wurden von den Moderatoren zu Sprechautomaten degradiert. Die Sehnsucht der Jugend nach einer authentischen politischen Begegnung wurde pervertiert, weil man die Jugend offenbar grundsätzlich als eine amorphe ADHS-Masse ansah und die Politiker für Phrasenbarone. Ausgerechnet die Formate, die der politischen Entfremdung entgegenarbeiten sollten, verdinglichten die Politiker zu Objekten. Die Integration von Online-Angeboten funktioniert eher nicht und zerstört den Dialog.

Studioflüchtling

Alice Weidel floh. Weil sich die AfD-Spitzenkandidatin in der ZDF-Sendung „Wie geht's Deutschland?“ schweren Angriffen ausgesetzt sah, verließ sie das Studio. Das blüht Deutschland: Diskursverweigerung, Leberwurst-Alarm im Parlament, inszenierter Pipifax. Wie opportunistisch die Politikerin agiert, zeigte sie in Klaas Heufer-Umlaufs Sendung „Ein Mann, eine Wahl“ (ProSieben), wo sie sich ganz dem ironischen Sound des Moderators anzupassen versuchte, einen auf coole Socke machte, dabei aber die Dissonanzen in der Partei offenbarte. Das war übrigens das gelungenste Interview in der ProSieben-Politshow, die zu sehr mit dem Image des Moderators und dem Konzept der Show beschäftigt war.

Talks am Scheideweg

Talkokratie

Die Talk-Shows von ARD und ZDF sind am Scheideweg angekommen. Hier und da gelungene Einzelsendungen, in der Summe schüren sie Politikverdruss, weil Phrasenüberfluss, weil schematische Eskalationsdramaturgie, weil Themenverflachung, weil todgezeigte Gäste. Zum Wahlkampf hatten sie wenig Konstruktives beizutragen. Ausnahmen wie die „Anne Will“-Sendungen „Wie viel Grün steckt in Schwarz?“ mit Cem Özdemir und Wolfgang Schäuble oder „Zwischen Wohlfühlwahlkampf und Wutbürgern - Verstehen die Politiker ihre Wähler noch?“ bestätigen die Regel.

#Deine Wahl

Die beiden YouTube-Talks mit Merkel und Schulz waren aufschlussreich, viel besser als das Presseecho vermuten ließe. Noch ertragreicher wäre es, wenn die YouTuber künftig ihre eigene Agenda, ihren eigenen Stil und Ausdrucksweise verfolgen und nicht versuchen, klassische Politikformate zu kopieren. Witzigster Moment: Als Merkel Ischtar Isik fragte: „Ihr allererstes Interview im Leben? Sonst machen sie immer nur Selbstdarstellung?“ war klar, dass die Kanzlerin mit ihrem YouTube-Kanal nicht mehr an „Bibis Beauty Palace“ vorbeiziehen wird.

Denk ich an 1976...

Schlussrunde

Nein, früher war nicht alles besser, aber die Elefantenrunde 1976 sollte man sich immer wieder anschauen. Über vier Stunden kämpften, schwitzten und rauchten Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Franz-Josef Strauß und Hans-Dietrich Genscher. Bis zur totalen Verausgabung, bis die Stimmen versagten. In der sogenannten „Schlussrunde“ 2017 in ARD und ZDF mussten sieben Spitzenpolitiker und zwei Moderatorinnen mit 90 Minuten auskommen. Was für ein Tohuwabohu, Themen-Salat, was für eine Entpolitisierung der Politik durch das Beschleunigungsfernsehen. Was bleibt? Alexander Gaulands Hundeschlips, Christian Lindners Allmachtswille (Ich bin die beste Opposition, beste Regierung, beste Moderatorin, beste Hedonistin, beste AfD-Bändigerin, beste FDP ever), Joachim Hermanns diabolisches Joker-Grinsen. Das 76-Format hatte – zumindest rhetorisch – allenfalls Sahra Wagenknecht.

Ihr müsst Euch ändern!

Die Politik- und Wahlkampfformate sind vielfach ausgereizt, untauglich. Die „asymmetrische Demobilisierung“ wird den Wahlkämpfern der CDU oft vorgeworfen, nur nicht anecken, die potenziellen Wähler des Gegners einschläfern, das Land einlullen. Doch wenn das so ist, darf man auch die journalistische und narrative Demobilisierung feststellen. Die TV-Journalisten stecken in den Zwangsjacken ihres Formats, weshalb sie austauschbarer wirken als die Politiker, die sie analysieren sollen. Wer von Postdemokratie spricht, sollte auch vom Postjournalismus nicht schweigen.

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