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Mit riesigen Datenmengen Probleme verhindern, bevor sie entstehen? Das ist die Idee der Solutionisten.
© dpa

Technischer Fortschritt: Mach es doch selbst!

Die Technik beschleunigt den Abbau des Sozialstaates, meint Evgeny Morozov. Er prognostiziert eine Welt, in der der Einzelne zu 99 Prozent verantwortlich für die Lösung von Problemen ist. Da hilft nur noch Karl Marx.

Herr Morozov, Sie haben über die „smarte neue Welt“ geschrieben, in der uns scheinbar intelligente und lernfähige Geräte das Leben leichter machen. Warum fürchten Sie diese Entwicklung?

Zunächst mal: Ich mag elektronische Geräte. Das Problem ist nicht die Technologie, sondern der ideologische Kontext, in dem sie verwendet wird. Was Silicon Valley macht, ist eng verbunden mit einem Wandel im Wohlfahrtsstaat hin zu mehr Prävention. Von der Gesundheit bis zur Kriminalitätsbekämpfung ist heute etwas verbreitet, das ich „Solutionismus“ nenne. Die Annahme ist, dass wir nur deshalb Probleme haben und uns falsch entscheiden, weil es noch nicht genug Daten über uns gibt. „Solutionisten“ glauben, dass wir mehr über unser Verhalten lernen, je mehr Daten wir generieren. Die Erkenntnisse könnten dann dazu benutzt werden, unser Verhalten zu ändern, um Probleme zu lösen. Das Gesundheitssystem ist zu teuer? Dann sorgen Sie mit einer App dafür, dass Sie gar nicht krank werden. Große politische Lösungen sind in Amerika vom Tisch. Heute ist der Einzelne gefragt, mithilfe von Technik seine Probleme selber zu lösen.

Aber ist das nicht eine gute Sache: dass man versucht, Probleme zu verhindern, bevor sie entstehen?

Es geht um die Methoden! Die Welt, auf die wir uns zubewegen, ist eine Welt, in der der Einzelne 99 Prozent der Verantwortung für die Lösung von Problemen trägt. Okay, wir können vereinbaren, dass jeder Einzelne für seine Sicherheit verantwortlich ist. Dann drucke ich mir die Schusswaffe mit dem 3-D-Drucker aus und zahle keine Steuern mehr. Aber die eigentliche Idee von Politik war es mal, Risiken über die Solidargemeinschaft abzufedern und so dem Einzelnen die Angst zu nehmen.

Was treibt die Entwicklung? Die Unternehmen? Der Staat in der Finanzkrise? Die Faulheit des Einzelnen?

Es ist jedenfalls kein Amoklauf der Technologie. Viele Entwicklungen, etwa die Deregulierung, haben dazu geführt, dass Staaten kein Geld mehr haben. Der Sozialstaat ist kaum noch zu finanzieren. Und in dieser Situation zeigt sich, dass man Daten zu Geld machen kann – und dass man mit Daten Wohlfahrtsprogramme individualisieren kann. Und der Staat rettet dann damit die Banken. Die Regierungen reden zwar davon, etwas gegen Google oder Facebook zu tun, doch die Konzerne sind ihre natürlichen Verbündeten.

Die Kritik am Internet ist mal die Kritik am Silicon Valley und seiner Ideologie, mal die Kritik an Monopolen, mal an der Verhaltenspsychologie, mal Kritik am mangelnden Datenschutz, mal die Kritik an schwachen, regulierungsunfähigen Staaten. Was kommt als Nächstes?

Was all das verbindet, ist eine Entpolitisierung. Silicon Valley sagt: Überlass die technologische Entwicklung uns, dem privaten Sektor. Wir machen das besser als alle anderen. Dabei könnte es doch auch so sein, dass eine Stadt eine Software für ein intelligentes Transportsystem entwickelt. Wenn ich mit dem Bus zur Arbeit fahre und zehn meiner Nachbarn haben eine ähnliche Strecke – warum teilen wir nicht unsere Daten? Warum verlassen wir uns auf Uber?

Was ist die politische Lösung?

Wir müssen erreichen, dass unsere Daten für politische oder soziale Zwecke verwendet werden können. In den Vereinigten Staaten gibt es jetzt eine App, die es Ihnen ermöglicht, einen Parkplatz zu verkaufen. Sie parken Ihr Auto im öffentlichen Raum. Jemand sucht einen Parkplatz, und Sie verkaufen ihm Ihren Parkplatz – nicht den öffentlichen Raum, aber die Möglichkeit, dort zu parken. Warum müssen wir wie ein Stricher unsere Daten anbieten, um einen Mehrwert zu erhalten? Wir müssen bestimmte Daten aus dem Markt herausnehmen und Wege finden, sie zu nutzen – im Sinne einer öffentlichen Bibliothek für Daten.

Aber warum sollte eine staatliche Organisation die passende App für unsere Daten entwickeln?

Die ideologische Falle, in der viele von uns sitzen, ist die Erwartung, dass entweder der Staat oder ein privates Unternehmen die Technologie entwickelt. Das ist falsch. Den Staat brauchen wir, um eine verbindliche Umgangsweise mit Daten vorzuschreiben. Dazu braucht es womöglich Interventionen am Markt. Denken wir über eine Alternative nach: Die Daten gehören nicht mehr dem Unternehmen, sondern werden in einer öffentlichen Datenbank gesammelt. Aus der können sich alle bedienen, um Anwendungen zu entwickeln – auch Google. Ich will nur den Mythos zerstören, dass es die eine große Alternative zu Google geben muss. Europa hat zehn Jahre damit verloren

Wie soll sich denn Ihr Modell finanzieren?

Man könnte eine Gebühr dafür erheben, dass die Datenbank persönliche Anfragen beantwortet. Das geht dann auch ohne Werbung. So teuer wäre es aber ohnehin nicht. Wir reden ja nicht davon, Kabel neu zu verlegen.

Die Kritik am Lauf der digitalen Revolution wird immer lauter. Aber hat sie Folgen?

Nein. Die Leute kommen immer wieder mit denselben Vorschlägen. Der eine ist: Gut, sollen die Leute doch für das Internet bezahlen. Der andere Vorschlag ist: Dann regulieren wir eben diese Internetunternehmen stärker. Ich glaube, dass man viel grundsätzlicher fragen müsste: nämlich ob die Dienstleistungen, die diese Unternehmen anbieten, wirklich dem Markt überlassen bleiben können. Ich sage nicht, dass man Internetunternehmen nicht regulieren sollte. Aber wir müssen aufhören, sie so zu regulieren, als seien sie einfach nur Softwarehersteller. Sie sind heute Infrastrukturanbieter, sie übernehmen Aufgaben der Daseinsvorsorge. Hier greift die Technologiekritik bislang zu kurz.

Der Wissenschaftler Evgeny Morozov.
Der Wissenschaftler Evgeny Morozov.
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Was hieße denn eine andere Regulierung für Sie? Brauchen wir bessere Datenschutzgesetze?

Datenschutzgesetze ändern nicht wirklich etwas daran, dass Daten eine Ware sind, und sie stärken auch nicht die Solidarität. Datenschutz mag ein praktischer Ansatz sein. So praktisch, als würde man sich in Erwartung der Apokalypse warme Socken überziehen. Es geht nicht darum, Daten zum Eigentum des Einzelnen zu erklären. Daten müssen denselben Status erhalten wie unser kulturelles Erbe. Sie müssen als Kollektivgut geschützt werden. Die Frage ist nicht, wem gehören die Daten. Sondern: Wem gehören die Plattformen. Es tut mir leid, wenn ich mich wie ein alter Marxist anhöre. Aber wenden wir doch einmal die Begriffe von Arbeit und Kapital an: Wir müssen dahin kommen, dass wir die Produktionsmittel kontrollieren. Also die Plattformen.

Wird sich unser Verständnis von Freiheit durch die digitale Revolution verändern?

Ich glaube, dass Freiräume kleiner werden – etwa durch das, was Versicherungen vorhaben. Privatheit wird heute völlig falsch verstanden. Die ursprüngliche Idee war es doch, dass das Private einen Raum bieten sollte, um sich von der Gemeinschaft zurückzuziehen, um etwas Subversives, Gefährliches, Nonkonformistisches zu tun, das dann in die Gesellschaft zurückwirkt. Aber der Kapitalismus hat den Begriff der Privatheit übernommen und jetzt ist das Private nicht mehr als ein bourgeoiser Raum, in dem man die Musik hören kann, die man hören möchte. Ich glaube, es muss Freiheit von staatlichen Institutionen geben – aber wir sollten diese Freiheit nutzen, um uns mit anderen zusammenzutun und gemeinsam etwas zu bewirken. Wir müssen wieder solidarischer sein.

Evgeny Morozov erforscht die Entwicklung des Internets und schreibt darüber. Zuletzt arbeitete er an der Stanford University und veröffentlichte das Buch „Smarte neue Welt“. Er ist derzeit Stipendiat an der American Academy.

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