Jenke-Experiment: Lasst mich euer Opfer sein
Fragwürdiges „Jenke-Experiment“ bei RTL: Ein Reporter säuft, kifft, sitzt im Rollstuhl. Immerhin, Jenke von Wilmsdorff transportiert gesellschaftliche Wirklichkeit.
An Kiffern ist kein Mangel. Rund vier Millionen Deutsche sollen regelmäßig Cannabis konsumieren. Eine Zahl, eine Dimension, die das Thema relevant machen. Sagt RTL und schickt Jenke von Wilmsdorff in die Spur. Der Privatsender nennt den Journalisten einen „Extrem-Reporter“. Was bedeutet: Jenke von Wilmsdorff bleibt nicht bei der Recherche stehen, er wechselt aus der Reporter- in die Betroffenen-Rolle – und hat darüber ein Format ausgebildet: „Das Jenke-Experiment“.
Also gibt sich Wilmsdorff zehn Tage lang die Flasche, um die Wirkungen und Nebenwirkungen persönlich und bilderstark über den Bildschirm zu transportieren. Am Montag zieht er in einen Coffeeshop in Holland (das den Drogenkonsum eingeschränkt hat) und inhaliert, bis ihn die Drogenschwaden fast verschlucken. Und Jenkes Experimente werden weitergehen, er wird sich im Rollstuhl platzieren, sich ins Sterbehospiz einweisen lassen. Das soll Eindruck machen. Was auch gelingt: Den Auftakt zur vierteiligen Staffel mit dem Thema Drogen sahen 3,78 Millionen Menschen (12,3 Prozent). Bei den Zuschauern zwischen 14 und 29 Jahren betrug der Marktanteil sogar 23,5 Prozent. Jenke von Wilmsdorff vollzieht, was im journalistischen Stand heftig diskutiert wird. Er macht sich im Wortsinne gemein, er geht über die Grenze, wenn er vom Objekt, sprich vom Beobachter, in die Subjekt-Rolle, sprich in den Teilnehmerstatus changiert. Das ist, siehe die (literarischen) Selbstversuchtexte eines Hunter S. Thompson, nicht neu. Neuartig ist, dass RTL damit in Serie geht.
Schau-Effekt durch den exzessiven Einsatz eines freien Radikalen oder Show-Effekt für die exzessive Quote? Natürlich, Jenke von Wilmsdorff möchte auffallen, er ist nicht der (öffentlich-rechtlich) distanzierte Dokumentarist, er ist Real-LifeProtagonist. Dem 48-jährigen Journalisten glückt durch die Grenzverletzung eine größere Nähe zum Zuschauer, Unmittelbarkeit herzustellen. Er vermittelt, ja verkörpert Erfahrungen, die ein Großteil des Publikums vielleicht nicht kennt. Stellvertreter-Fernsehen, das authentisch sein will, intensiv und sehr emotional arbeitet.
Keiner hat diese Experimente verlangt, für den Zuschauer zu saufen, für den Zuschauer zu kiffen, im Rollstuhl zu sitzen, im Sterbehospiz zu leben. Welches Zuschauerbild herrscht da vor? Vielleicht das des ahnungslosen, desinteressierten, stumpfen Zeitgenossen, der die dunklen Seiten der Wirklichkeit nur aus zweiter Hand und da am liebsten über die Medien wahrnimmt. Aber RTL und Jenke unterschätzen, sie blenden Empathie und Empirie aus. Drogenerfahrung ist keine exklusive Erfahrung. Behinderung und Sterben genauso wenig. Auf die Beobachtung und die Beigabe der sauber aufgearbeiteten Informationen wird der ausladende Selbstversuch draufgesetzt. Der Reporter wird Autorität. Seht her, ich saufe, ich kiffe, ich weiß ganz genau, wovon ich rede, was ich zeige. Mir kann keiner.
Jenke von Wilmsdorff transportiert gesellschaftliche Wirklichkeit. Das ist sein Verdienst. Eitel bis zum Ego-Stolz ist es, Schicksal ad personam testieren zu wollen. Und fragwürdig. Ich bin das bessere Opfer, die anderen, die wahren sind nur zweite Wahl. Der Reporter als Zyniker.
Joachim Huber
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