3sat-Doku: Jedem ein Dutschke
„Lichtgestalt der Linken“ – „Staatsfeind Nr. 1“: Eine 3sat-Dokumentation widmet sich den Projektionen zu und der Utopie des Rudi Dutschke.
Am 11. April 1968 wurde Rudi Dutschke in Berlin auf offener Straße niedergeschossen. Dieser Mordversuch markiert einen Wendepunkt in der neueren deutschen Geschichte. Die Studentenbewegung radikalisierte sich, bis hin zum Terror der RAF. Wäre Dutschke ohne das Attentat den Genossen in den gewaltbereiten Untergrund gefolgt? Diese alte Frage rollt eine zweiteilige 3sat-Doku neu auf. Christoph Weinert, Spezialist für historische Themen, blickt zurück auf die Lebensgeschichte des Studentenführers und versucht dessen Visionen und Utopien aus heutiger Sicht auszuloten.
Die Geschichte des linken Vordenkers wurde eigentlich ja rauf und runter erzählt. Mit Stefan Aust, Rainer Langhans, Claus Peymann, Daniel Cohn-Bendit und Dieter Kunzelmann – Letzterer mit einem gespenstischen Auftritt – melden sich auch hier wieder die üblichen Verdächtigen zu Wort. Ihre Deutungshoheit wird allerdings durch eine beachtliche Vielstimmigkeit gebrochen. Weggefährten wie Jörg Schlotterer, Hajo Funke und Bernd Rabehl, der „seit den späten 1990ern mit rechtsextremen Positionen sympathisiert“, blicken ebenfalls zurück. Nicht im Zorn, aber nachdenklich.
Von den üblichen Hagiografien unterscheidet sich dieses Porträt. Denn mit Mathias Döpfner gibt der Film auch dem heutigen Repräsentanten des einstigen Klassenfeindes, dem Axel Springer Verlag, eine Stimme. Zur Würze dieses Films tragen gallige Statements des CSU-Politikers Peter Gauweiler bei, der sich durchaus anerkennend über Dutschke äußert: „Er kam nicht so verschlampt daher.“ Gemeint ist die äußerliche Erscheinung Dutschkes – aber auch sein religiös anmutendes Charisma, dem der Film auf Seiten- und Umwegen nachspürt.
Berufswunsch: Sportreporter
Seiner Verwurzelung in einer protestantischen Familie verdankte Dutschke eine christliche Mission. Er war disziplinierter Leistungssportler, dem die DDR jedoch aufgrund seiner kritischen Haltung zur Volksarmee die Karriere verbaute. Also ging er nach Westberlin, um Sportreporter zu werden, schrieb sich aber an der Universität für Soziologie ein. Später sollte er in die Kommune I miteinziehen, um freie Liebe zu praktizieren. Lieber heiratete er eine amerikanische Theologin und wechselte die Windeln seines ersten Sohnes Hosea-Che. Warum also wurde dieser Mann, der nicht rauchte, nicht trank und nicht ins Kino ging, zum Lautsprecher einer Bewegung, die mit der hedonistischen Entfesselung des Lustprinzips quasi das Gegenteil von Dutschkes Askese proklamierte?
Diese Frage beantwortet der Film nicht, er umkreist sie. Wichtige Protagonistin ist Gretchen Dutschke-Klotz, die Witwe des 1979 an den Spätfolgen des Attentats verstorbenen Aktivisten. Sie ist alles andere als ein Lautsprecher. Wenn sie zum Programm der sexuellen Befreiung der 68er anmerkt, dass „Frauen, die keine Lust hatten, nicht die Berechtigung hatten, Nein zu sagen“, dann klingt das aus ihrem Mund fast noch wie eine Entschuldigung. Dieses unaufgearbeitete Kapitel hat mit Dutschke selbst nur indirekt zu tun. Es gehört aber zum Vermächtnis seiner Utopie, die der Film nicht feiert, aber auch nicht verwirft.
Wer also war Dutschke? Diese Frage beantwortet die Dokumentation gleich zu Anfang. Ein Archivfilm, der ihn in seiner typischen Sprechgeste zeigt, wird auf die Fensterscheibe eines Zugabteils projiziert, in dem Gretchen sitzt. Sie scheint ihrem verstorbenen Mann wie einem Geist zu lauschen. Die Szene trifft den Punkt. Dutschke war eine Projektion. Jede Seite konnte in ihm sehen, was sie wollte. „Lichtgestalt der Linken“ war er für die einen und „Staatsfeind Nr. 1“ für die anderen. Welche Rolle er wohl heute spielen würde? Das werden wir nie erfahren. Manfred Riepe
„Dutschke“, 3Sat, Mittwoch, 20 Uhr 15
Manfred Riepe