Schüren Medien Ängste?: „Je scheußlicher, desto berichtenswerter“
Die Kriminalität sinkt, das Unsicherheitsgefühl bleibt. Ein Interview mit dem Kommunikationswissenschaftler Oliver Quiring zur „Angstmacherei“ der Medien.
Professor Oliver Quiring ist Leiter des Lehr- und Forschungsbereichs für Kommunikationswissenschaft am Institut für Publizistik der Universität Mainz.
Herr Quiring, laut neuer Kriminalstatistik sinkt die Zahl der Delikte in Deutschland. Zugleich bleibt das „Unsicherheitsgefühl“ hoch. Kann mediale Berichterstattung dieses Gefühl forcieren?
Wir wissen seit vielen Jahren, dass negative Sachverhalte eine größere Chance haben, veröffentlicht zu werden, als positive. Das gilt neben politischen Skandalen und Naturkatastrophen natürlich auch für Verbrechen. Je scheußlicher und absonderlicher, desto berichtenswerter. Dass die Art der medialen Darstellung das Sicherheitsgefühl nicht gerade erhöht, ist sehr plausibel und auch ganz gut erforscht. Angst hat eine recht irrationale Komponente. Und die lässt sich durch Statistiken – so richtig diese auch sein mögen – nur schwer eindämmen.
Greift hier überhaupt ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang oder muss die Analyse differenzierter ausfallen?
Ja, es gibt diesen Zusammenhang. Die Fernsehforschung hält hier unter dem Stichwort der „Kultivierung“ zahlreiche Befunde dazu bereit, dass selbst Unterhaltungssendungen mit Verbrechensinhalten dazu beitragen, dass Bürger die „Chance“, Opfer eines Verbrechens zu werden, massiv überschätzen. Aber es muss auch differenziert werden. Die Wirkung hängt sehr davon ab, welche Medieninhalte unter welchen Umständen von wem konsumiert werden und aus welcher Quelle die Meldung stammte. Kommen die ursprünglichen Informationen von der Polizei oder von Gerichten und werden diese in seriösen Nachrichten gebracht, sollten sie eher der Einordnung als der Panikmache dienen. Und natürlich sind die Nutzer sehr verschieden. Erstens hinsichtlich ihrer Ängstlichkeit, zweitens hinsichtlich dessen, wie stark sie zwischen fiktionalen und non-fiktionalen Inhalten unterscheiden können. Für viele Menschen macht es einen Unterschied, ob Kriminalität Thema der „Tagesschau“-Meldung oder des „Tatort“ ist. Drittens macht es etwas aus, in welcher Umgebung sie leben. Ist der medial berichtete Mord in der Nähe passiert, wird das Sicherheitsgefühl stärker beeinflusst, als wenn sich die Tat fernab ereignet hat.
Was ist Ihre Beobachtung: Nehmen vor allem Onlinemedien Kriminelles zu gerne auf ihre Agenda, weil sie wissen, dass damit die Klickraten nach oben getrieben werden können?
Berichte über schwere Kriminalität werden meiner Einschätzung nach von allen Medien gerne gebracht. Medien reagieren damit auf eine zutiefst menschliche Eigenschaft: Wir sind bei Gefahr deutlich aufmerksamer als in deren Abwesenheit. Die Medien sind hier folglich nicht der alleinige Teil des Problems, auch die Nutzer tragen durch ihr Verhalten wesentlich zur Verbreitung von Meldungen über schwere Verbrechen bei. Der wesentlichste Unterschied, den ich zwischen Onlinemedien und den übrigen Medien sehe, liegt in der Aufmachung: Onlinemedien haben tendenziell die provokativeren Überschriften, mit denen Leser zum Weiterklicken geködert werden sollen.
Kriminalität, Migration – sind das Themen, die immer Ängste befördern, egal, ob positiv oder negativ berichtet wird?
Da würde ich widersprechen. Sicher, beide Themen erzeugen zunächst Unsicherheit: Kriminalität durch den Gedanken, selbst Opfer werden zu können, Migration vor allem dadurch, dass man mit Fremden, also mit Menschen konfrontiert ist, die man nicht mit seinen routinierten Denkmustern einschätzen kann. Das muss dann noch nicht Angst sein. Und auch eine aufklärerische Berichterstattung, die neben der Statistik auch Wege zur Eindämmung von Kriminalität aufzeigt, kann durchaus die Gemüter beruhigen. Angst wird daraus, wenn die negativen Aspekte betont und die Mediennutzer damit alleine gelassen werden. Oder wenn Migration und Kriminalität undifferenziert verbunden werden.
Spielen die etablierten Medien für den Wissens- und Gefühlshaushalt noch immer eine, wenn nicht die entscheidende Rolle?
Sie spielen – nach der persönlichen Erfahrung – eine noch immer beträchtliche Rolle. Einerseits ist die Beziehung zwischen Bevölkerung und den etablierten Medien in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern nicht derart beschädigt, dass hier gar kein Vertrauen in die Berichterstattung bestehen würde. Anderseits eröffnen soziale Medien diverse Möglichkeiten, mit Falschmeldungen, die ihren Weg in die etablierten Medien finden, Verunsicherung zu stiften. Man könnte es auch positiver formulieren: Was für Hass und Verunsicherung genutzt wird, eignet sich prinzipiell dafür, mit beiden Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes und ganz gesellschaftsdienlich bei gesellschaftlichen Entscheidungsträgern kritisch nachzufragen.
Auch Formate wie "Aktenzeichen XY" verunsichern
Immer ist vom Journalismus die Rede. Aber befördern die Krimiwelle im Fernsehen und „Aktenzeichen XY…ungelöst“ die Sorgen und Ängste nicht viel stärker?
Wirkungsvergleiche zwischen fiktionalen und non-fiktionalen Formaten sind bei der Kriminalität weniger gut erforscht. Wir wissen, dass auch Krimisendungen unter bestimmten Bedingungen und bei bestimmten Nutzern die Verunsicherung erhöhen können. Aber eben nicht bei allen. Zu „Aktenzeichen XY“ eine persönliche Bemerkung. Das hat mir als Kind durchaus Schrecken eingejagt. Aus zwei Gründen. Erstens wusste ich, das ist tatsächlich passiert. Und zweitens, noch entscheidender: der oder die Täter laufen noch frei herum.
Ihr Institut betreibt eine Langzeitstudie zur Glaubwürdigkeit der Medien. Was sind die Faktoren, die die Glaubwürdigkeit verstärken oder vermindern?
Auf Seiten der Medien helfen bei aller Diskussion um Social Media, alternative Medien und die angeblich so unmittelbare Welt des Internets doch noch etablierte Marken und professionelle journalistische Arbeit. Das sollte man nicht unterschätzen. Bei den Nutzern sind es mehrere Faktoren. Wir unterscheiden hier zwischen Zynikern, also Menschen, die im Prinzip mit den Medien abgeschlossen haben und sie in aller Breite für nicht vertrauenswürdig halten, und Skeptikern. Zynismus senkt Vertrauen. Zyniker misstrauen nicht nur den Medien, sondern auch vielen anderen Institutionen. Skeptiker sind Menschen, die durchaus die Unzulänglichkeiten der Medien sehen, mit diesen aber konstruktiv umgehen. Eine gesunde Skepsis bei gleichzeitigem Glauben daran, in einem demokratischen System als Bürger Einfluss zu haben, schafft sogar Vertrauen.
Was können die Medien selber tun, um die Werte zu verbessern?
Zunächst Geduld mitbringen. Vertrauen ist deutlich schneller verspielt als aufgebaut. Gesellschaftliche Probleme offen und klar aufzeigen – auch mögliche Lösungswege. Das heißt, die Menschen mit ihren Befürchtungen nicht alleine zu lassen, bei den Lesern zu sein, ihre Themen ernst zu nehmen, aber nicht bei jeder artikulierten Sorge hysterisch mitzugehen.
Das Interview führte Joachim Huber.
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