TV-Doku "Kulenkampffs Schuhe": Im Wirtschaftswundenland
Die meisterliche Dokumentation „Kulenkampffs Schuhe“ von Regina Schilling verbindet die seelischen Verletzungen ihres Vaters mit der verdrängerischen Kultur der Nachkriegszeit.
Dieses apfelweiche Jungengesicht. Besonders zur Wehrmachtsuniform und später zum persilweißen Drogistenkittel – es will mit seiner Umgebung ins Reine kommen. Der Beobachter aber sieht gleich: Das wird nie gelingen. Die Zeiten sind zu hart.
Die 1962 in Köln geborene Journalistin und Dokumentarfilmerin Regina Schilling – Porträts über Benjamin Lebert, Josef Bierbichler, Adriana Altaras (Autorin von „Titos Brille“) und die Odenwaldschule – beschäftigt sich in ihrem neuesten meisterhaften Film „Kulenkampffs Schuhe“ mit ihrem Vater. Einem Kleinbauernsohn, der sich ein Jahr vor Kriegsende mit 19 Jahren meldet, um für den bewunderten Hitler gegen den Feind zu fliegen. Äußerlich unverletzt überlebt der 1925 Geborene den Krieg, sichert seiner jüngeren Frau und seinen drei Kindern als stolzer Drogist ein ordentliches Auskommen, genießt die Samstagabendstunden vor dem Fernseher, wenn die Quizmeister, alles Jahrgangsgenossen, ihr harmloses Allotria treiben.
Dann fällt die Preisbindung für Drogerieprodukte. Der Vater bekommt Existenzangst, raucht wie ein Schlot, ist ständig überarbeitet, verschuldet sich. Mit 47 Jahren stirbt er an einem Herzinfarkt. Über den Krieg hat der Adenauer-Verehrer nie geredet. Jetzt mit Mitte fünfzig will die Tochter mit ihm darüber sprechen. Doch wie? Das Wunder dieser 93 Minuten langen Filmsuche, die kein Thema der 70er und 80er Jahre auslässt, ist ihre Entschlossenheit, sich an keiner Stelle über die Vergangenheit zu erheben. Die Zeit und nur die Zeit soll sich selbst erzählen. Zur Selbstauskunft dienen private Fotos, private Super-8-Filme, Sendungsmitschnitte von Kuli- und Rosenthal-Shows, Peter-Alexander-Songs, der O-Ton einer Hitlerrede, Werbeclips, Kriegsgefangenenaufnahmen, zerbombte Städte, Umfrageausschnitte.
Ein Bilderbogen mit Zeitkolorit
Ein Bilderbogen entsteht, an dem die erwachsene Autorin Schilling mit dem Kind, das sie war, vorbeigeht und prüft, ob all das Zeitkolorit etwas damit zu tun hat, was sie als gläubiges katholisches Kind ersehnte, verabscheute oder nicht verstand. Ganz wunderbar gelingt es der den Text sprechenden Schauspielerin Maria Schrader, den Dialog zwischen jungem und altem Schilling-Ego lebendig zu machen.
Die begreifende Heimholung der Kindheit hat einen unerwarteten Effekt: Die scharfe Trennung von Massenmedium und privater Existenz wird durchlässig. Zur Familie gehören die schwankenden Gestalten der Fernsehunterhaltung: der gepflegte Hausfrauenliebling Herr Kulenkampff, der agile Spaßmacher Rosenthal, der tanzbeinige Kellner-Beau Peter Alexander. Sie sind in dieser Vatersuche wie selbstverständlich auskunftsberechtigt.
Denn ihnen, die kein Bildungsphilister eingeladen hatte, sondern verachtete, gehörte für einen Abend das Wohnzimmer der Deutschen. In oft gewittrigen Nachkriegsehen schufen diese Samstagsengel des Schlichten den Kindern Glücksgefühle, weil nicht gestritten wurde, und den Erwachsenen geheime Vertrautheit. Warum bloß den Erwachsenen?
Die einfältigen Spiele können es nicht gewesen sein. Dokumentaristin Schilling deckt auf: Die TV-Clowns und das erwachsene Publikum verband das Geheimnis der Kriegsnarben, genauer deren Verdrängung. Kulenkampff, der kecke Bremer Kaufmannssohn, hatte sich während des Überfalls auf Russland eigenhändig vier erfrorene Zehen abgeschnitten. Daher der Filmtitel. Erst viel später spricht er darüber. Aus Kriegsfilmen läuft er weinend hinaus. Den Tourneebus fährt er auch im Alter noch eigenhändig, weil er sich freut, dass an dem Gefährt kein Geschütz hängt.
Hans Rosenthal („Dalli Dalli“) verschweigt vor der Öffentlichkeit sein Schicksal als verfolgter Jude, der fast wie sein Bruder aus dem Waisenhaus heraus in den Tod geschickt worden wäre, hätte ihn nicht eine mutige Bürgerin versteckt. Als ein Showtermin auf den 9. November 1978 fällt, den 40. Jahrestag der Reichspogromnacht, und Rosenthal schwarz gekleidet vor die Kamera tritt, sagt er nichts über den Grund. Das ZDF verbittet sich das. Robert Lemke, der beliebte Vorsteher der Ratefüchse, weiß genau, warum er verschweigt, dass er verfolgter Sohn eines jüdischen Vaters ist.
Das Kernthema der Nachkriegszeit
Der Titel der plauderseligen Promishow aus München „Was bin ich?“ rührt an das Kernthema der Nachkriegszeit, den Verlust der männlichen Identität der von Hitler verfolgten, verführten, verheizten und später zum seelischen Verdorren gebrachten jungen Männer. „Kulenkampffs Schuhe“ glänzt, wenn der Film unter die Oberfläche der Shows taucht und die Verdrängungen der Spaßmacher aufdeckt.
Vor allem aber, er richtet nicht. Er beobachtet. Er gehört in eine Reihe mit Ulla Hahns vierbändigem Entwicklungsroman vom rheinischen Mädchen Hilla, das lernt, ihrem gewalttätigen, durch den Krieg beschädigten Proletenvater zu vergeben. Auch zu dem heiteren und melancholischen Staunen eines Richard Ford, der in „Zwischen ihnen“ das Glück und das Elend seiner Eltern zu achten lernt.
Glück hat es für den Drogisten-Vater Schilling wenig gegeben, aber die Tochter hat die Würde seiner Weichheit und seiner inneren Einsamkeit gerettet. Großes Fernsehen.
„Kulenkampffs Schuhe“, ARD, Mittwoch, 22 Uhr 30
Nikolaus von Festenberg
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