TV-Serie "Deutschland 86": Auf in den Kampf, auf in den Kapitalismus
Auf „Deutschland 83“ folgt „Deutschland 86“: Die Amazon-Serie lässt die DDR noch nicht untergehen.
„Gehen die Zahlen runter, geht die DDR unter.“ Barbara Dietrich (Anke Engelke) meint das überhaupt nicht komisch, die Buchhalterin in der Kommerziellen Koordination führt der Spitze der Hauptverwaltung Aufklärung nur vor Augen, was Sache ist im Arbeiter- und Bauernstaat des Jahres 1986. Also muss die HVA aktiv und innovativ werden, damit die DDR sich dringend benötigte Einnahmequellen erschließt. Die sozialistischen Agenten, in der DDR „Kundschafter des Friedens“ genannt, sollen mit riskanten Aktionen rund um den Globus Geld auftreiben. Eigentlich undenkbar, aber praktisch machbar: Mit dem ärgsten Feind werden fragwürdige (Waffen-)Geschäfte gemacht. Der Kommunismus soll mit Kapitalismus gerettet werden.
„Deutschland 86“, eine Ufa-fictionProduktion, schließt an „Deutschland 83“ an, jene Serie, die bei RTL nur bedingt funktionieren wollte; preisgekrönt, von der Kritik durchweg gelobt, war sie international ein großer Erfolg, verkauft in mehr als 110 Länder. Also hat sich der Streamingdienst Amazon engagiert und eine zweite Staffel bestellt. Die Autoren und Produzenten Anna und Jörg Winger knüpfen bei ihrer Fortsetzung an die Story des DDR-Grenzsoldaten Martin Rauch (Jonas Nay) an, der als Spion in die Bundeswehr eingeschleust wurde und nach etlichen Verfehlungen nach Angola verbannt wurde. Getrennt von Sohn, Freundin, Mutter und Heimat fristet er ein freudloses Dasein.
Gefährliche Tante
Dann taucht seine Tante Lenora (Maria Schrader) auf, wie stets rekrutiert sie ihn mit vagen Versprechungen für neue Aufgaben. Auch sie muss liefern, damit sie für die Kampfgenossen weiterhin in vorderster Front gegen Imperialisten und Klassenfeinde agieren darf. Die gefährliche Mission führt Neffe und Tante durch Südafrika, Angola, Libyen, West-Berlin und schließlich zurück in die DDR, wo Martin – nach zehn Episoden à 45 Minuten – eine unmögliche Entscheidung fällen muss.
„Deutschland 86“ bindet sich, vorzugsweise durch Fernsehausschnitte, an die Historie und interpretiert sie neu, sprich die Autoren nehmen sich, was sie brauchen, und lassen weg, was ihnen nicht in diesen Kalte-Krieg-Thriller passt. Deutsch-Deutsches, West und Ost sind Folie. Folie ist ein zu kleines Wort, die opulent besetzte und ausgestattete Serie bietet Panorama und Perspektiven.
Zu letzteren gehört das „Heimspiel“ in der DDR. Die HVA ordnet zur Devisenbeschaffung eine dubiose medizinische Versuchsreihe eines West-Medikaments an Ost-Patienten an. Doch die Skrupel der betreuenden Ärztin Tina (Fritzi Haberlandt) werden immer größer. Sie will mit ihrer Familie in den Westen, der Ausreiseantrag ist gestellt. Martins in der DDR zurückgebliebene Freundin Annett (Sonja Gerhardt) geht dagegen inzwischen völlig in ihrer Rolle als ehrgeizige und Ja sagende HVA-Mitarbeiterin auf.
Fesseln und amüsieren
Das Miteinander, Gegeneinander, Füreinander der preziös ausgearbeiteten Figuren führt zu einer eng gestrickten Dramaturgie, es wird schnell agiert, zuweilen drängt sich Action vor Dialog und Handlung. „Deutschland 86“ will fesseln, zugleich auch amüsieren, besonders die Sitzungen in der HVA greifen ins Bizarr-Komische hinüber: Wie die kommunistische Idee in Frage und ebenso rasch wieder außer Frage gestellt wird. Uwe Preuss als Chef der Hauptverwaltung Aufklärung, er heißt hier Marcus Fuchs (!), sieht die Situation realistisch, aber dieser Realismus muss zum Zwecke der Motivation der Truppe mit Idealismus überkleistert werden. Aufgeben gilt nicht – und schon gar nicht die DDR! Walter Schweppenstette (Sylvester Groth) wittert die Chance, als degradierter HVA-Mitarbeiter wieder ins Zentrum der Macht zu kommen. Er hatte immer Pläne, und jetzt hat er wieder einen.
Wie immer sie auch heißen, Nay, Schrader, Haberlandt, Preuss oder Groth, sie geben ihren Charakteren Kontur und Statur, sie führen sie ein Stück weit weg von der Fiktion und fügen sie ein in ein Spionagespiel, das die realhistorische Situation aus Apartheid, Tschernobyl oder Aids miterzählt. In der Regie von Arne Feldhusen und Florian Cossen entfaltet sich die dramatische Story mit einem Ensemble, das sich psychologisch und körperlich zu positionieren weiß. Und weil dies alles in den 80er Jahren spielt, ist die Musik prägnant ausgewählt, wird das Lebensgefühl jener Zeit durch detailreiche Ausstattung revitalisiert. Der Sound der Zeit wird bereits im Vorspann eingefangen, in dem in der Serienfortsetzung die englische Version von Peter Schillings „Major Tom“ läuft. Der Sex von Martin und seiner Geliebten Brigitte Winkelmann (Lavinia Wilson), Ehefrau des westdeutschen Handelsattachés in Kapstadt, wird von Elvis Costellos „I want you“ begleitet. „Such a Shame“ von Talk Talk untermalt eine Schießerei in einer angolanischen Ölraffinerie, bei der zum Finale in Zeitlupe blutbefleckte Dollarscheine auf die Leichenschar herunterregnen. Kapitalismus und Kommunismus begegnen sich – und keine Ideologie erweist sich als strahlende, moralisch überlegene Gewinnerin.
RTL freut sich schon
„Deutschland 86“ ist divers, Popcorn, Erinnerungsfernsehen, Spannungs-TV. Und weil die Mischung stimmt, arbeitet die Autorencrew bereits an „Deutschland 89“. Da ging die DDR unter, weil die Zahlen runtergegangen waren. Vorher freut sich RTL auf die Free-TV-Ausstrahlung des 86er-Jahrgangs.
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