MeToo-Debatte bei „New York Review of Books“: Gnade und Ungnade
Ian Burumas Abschied von der „New York Review of Books“ und der Streit um die Prinzipien publizistischer Freiheit. Ein Kommentar.
Um zu einem angemessenen Urteil über Ian Burumas Demission als Chefredakteur der „New York Review of Books“ zu gelangen, sind zwei Perspektiven gleichzeitig nötig. Zum einen muss man den Essay des kanadischen Popmusikers und Moderators Jian Ghomeshi, dessen Veröffentlichung ihn nun den Kopf kostete, falls er den Bettel nicht selbst hingeschmissen hat, aus nächster Nähe betrachten.
Wer die „Reflections from a Hashtag“, die in einer Schwerpunktausgabe zum Thema „The Fall of Men“ am 11. Oktober gedruckt erscheinen und auf nybooks.com schon online stehen, nicht gründlich gelesen hat, sollte vornehm schweigen. Zum anderen sollte man so weit wie möglich zurücktreten und den Fall als Streit um die Prinzipien publizistischer Freiheit betrachten.
Einem der sexuellen Belästigung angeklagten Mann, der juristisch in allen Punkten freigesprochen wurde und sich in einem Fall außergerichtlich einigte, das Recht streitig zu machen, seinen Sturz öffentlich darzustellen, verlagert das Grundsätzliche in einen feministischen Vorraum. Die Frage, ob seine Äußerungen das Bild nicht wenigstens vervollständigen, stellt sich für Constance Grady, die Kommentatorin der News- und Meinungs-Website vox.com, gar nicht erst.
Ihrem ansonsten messerscharf durchargumentierten Artikel, der auch den Fall des amerikanischen Journalisten John Hockenberry einbezieht, der sich in „Harper’s“ erklärte, ist der Satz vorangestellt: „Essays von in Ungnade gefallenen Männern sind nicht provokant und neu. Sie verstärken den Status quo.“
Mit anderen Worten: Sie schaden der Sache von MeToo, unabhängig davon, welchen Ton sie anschlagen und was jeweils geschehen ist. Grady betont das strukturell Gemeinsame, wo doch die Unterschiede zwischen Ghomeshi, dem eine Vielzahl von Frauen körperliche Übergriffe vorwarf, und dem im Rollstuhl sitzenden Hockenberry, dem die koreanischstämmige Schriftstellerin Suki Kim unzüchtige Avancen per E-Mail vorhielt und Kolleginnen sexistische Bemerkungen zur Last legen, beträchtlich sind.
Immerhin wird er nicht um seine Zukunft fürchten müssen
Mit Ghomeshi darüber zu streiten, wieviel Selbstmitleid oder Verharmlosendes sein Text enthält, ist legitim. Es hilft, den immer wieder neu zu bestimmenden moralischen Fokus zu justieren, der jenseits des bloß Justiziablen gilt. Buruma einen Strick daraus zu drehen, den Text als Teil einer Debatte ins Spiel gebracht zu haben, die weit über das linksliberale Bollwerk der „New York Review“ hinausgeht, ist nicht legitim.
Sein Insistieren darauf, ein Gespräch darüber anzuregen, wann und unter welchen Umständen Menschen wie Ghomeshi die Gelegenheit erhalten sollten, vom außergerichtlichen Pranger der sozialen Medien in ein bürgerliches Leben zurückzukehren, berührt zentrale Probleme der Rehabilitierung. Buruma als den Überbringer dieser Botschaft auf eine Stufe mit dem reuigen Übeltäter zu stellen, der für sich natürlich auf Entlastung hofft, wäre ein Unding.
Dazu kommt, dass sich die Erregung schon vor der Veröffentlichung Bahn brach. Gegner des Essays innerhalb der „NYRB“ hatten ihn anderen Medien zugespielt. Die Wellen schlugen hoch, bevor sich die Allgemeinheit ein Urteil bilden konnte. Burumas Amtszeit endet damit abrupt. Erst 2017 hatte er die Nachfolge des verstorbenen Gründers Robert B. Silvers angetreten.
Immerhin wird er nicht um seine Zukunft fürchten müssen. Der Schrifsteller und Sinologe, der erst im März ein Memoir über seine „Tokyo Romance“ veröffentlichte, war zuvor 14 Jahre lang Luce Professor of Democracy, Human Rights & Journalism am Bard College in Upstate New York. Ihm stehen noch viele Türen offen.