Griechenland und Kampagnenjournalismus: Gefährlich wird es, wenn der Funken überspringt
Die Selfie-Aktion von "Bild" gegen neue Griechenland-Kredite hat sogar den Bundestag beschäftigt. Gefährlicher als der Kampagnenjournalismus des Springer-Blattes sind die Scheuklappen mancher Medienmacher.
Die Kampagne der „Bild“-Zeitung gegen weitere Zahlungen an Griechenland hat überraschend großen Protest, anderem von Journalistenverbänden, mobilisiert. Die „Bild“-Aktion wirft die Frage auf, ob Journalisten ihre Macht missbrauchen, wenn sie und ihre Redaktionen sich in Kampagnen engagieren, statt nur vom Beobachterposten aus zu analysieren, was sich in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft tut. Anders als in ihre Ämter gewählte Politiker sind sie nicht demokratisch legitimiert, Politik zu machen – aber zur Demokratie gehört es ja durchaus auch, dass jeder Staatsbürger im Rahmen seiner Möglichkeiten sich politisch engagieren und äußern darf, so lange er dabei nicht gegen geltendes Recht verstößt.
Von selbst versteht sich, dass nicht nur „Bild“-Chefredakteur Kai Diekmann und seine Verlegerin Friede Springer, sondern auch der Chef der Deutschen Bank oder die Geschäftsführerin von Greenpeace andere Einflussmöglichkeiten haben als Otto Normalbürger, sei er nun Studienrat, Mitglied der SPD oder Pegida-Demonstrant. Vor allem große Unternehmen, aber auch Verbände und manche Non-Profit-Organisationen lassen es sich obendrein viele Millionen kosten, auf politische Entscheidungen durch PR-Arbeit und Lobbying Einfluss zu nehmen. Während sich solche Aktivitäten oft hinter den Kulissen abspielen, ist der Kreuzzug von „Bild“ zumindest für alle transparent.
Kai Diekmann befindet sich, was Kampagnen anlangt, in „guter“ journalistischer Gesellschaft. Er selbst hat in einem Tweet auf Rudolf Augstein und Henri Nannen verwiesen. Neben diesen Altmeistern des Kampagnenjournalismus in der Bundesrepublik wären auch Frank Schirrmacher oder ARD und ZDF zu nennen. Letztere vergessen zumindest, wenn es um den Rundfunkbeitrag geht, all ihre öffentlich-rechtliche Verpflichtung zur Ausgewogenheit und berichten zu diesem Thema seit Jahr und Tag vorhersehbar einseitig. Auch das ist wohl eine Spielart von Kampagnenjournalismus.
Wer sich allerdings prinzipiell für oder gegen Kampagnenjournalismus ausspricht, macht es sich wohl zu einfach. Es kommt auch darauf an, wofür oder wogegen man sich engagiert. Anders als Augstein und Schirrmacher kann man Diekmann und im Rückblick wohl auch dem legendären „Stern“-Chefredakteur Nannen Populismus vorwerfen. Andererseits ist Populismus das Lebenselixier jedweden Boulevard-Journalismus. Im konkreten Fall stellt sich obendrein die Frage, wer das Volk besser repräsentiert: der – bei näherem Hinsehen wohl doch sehr brüchige – Allparteien-Konsens im Bundestag, oder die „Bild“-Zeitung, die nach aktuellen Umfrage-Ergebnissen je nach Zählweise zwei Drittel bis drei Viertel der Bevölkerung im Blick auf ihre Skepsis gegen weitere Steuermilliarden für Griechenland hinter sich weiß.
Für Demokratien gefährlich werden Medienkampagnen vor allem dann, wenn sie nicht von einem einzigen Medium allein inszeniert werden. Wenn der Funke überspringt, wenn sich bei einer Skandalisierung plötzlich alle einig sind, wird es mitunter heikel. Oftmals schreiben Journalisten dann voneinander ab und verstärken so gegenseitig die einseitige Wahrnehmung eines Problems, statt unabhängig und ergebnisoffen zu recherchieren. Der Skandal bekommt Eigendynamik: Sich mit der Herde bewegen ist auch für Journalisten allemal einfacher und weniger gefährlich als niedergetrampelt zu werden, weil man sich mutig oder tollkühn gegen die vorherrschende Marschrichtung stemmt.
Solche Fälle, in denen einzelne oder auch viele Redaktionen gemeinsam ihre geballte Medienmacht einsetzen, um sich für oder gegen etwas zu engagieren, gibt es immer mal wieder. So wurde Shell zum Opfer einer von Greenpeace und den Medien gesteuerten Boykott-Kampagne, weil das Unternehmen die Bohrinsel Brent Spar im Meer versenken wollte – ein Vorgehen, von dem wir heute wissen, dass es viel umweltfreundlicher und kostengünstiger gewesen wäre als die Verschrottung der Bohrinsel an Land, die letztlich durch einseitige Medienberichterstattung erzwungen wurde. Ähnlich ist Bundespräsident Wulff zum Opfer einer Medienkampagne geworden, bei der ebenfalls die „Bild“-Zeitung eine eher unrühmliche Rolle spielte. Wulff hat sich zwar naiv und eines Bundespräsidenten eher unwürdig verhalten, aber die von den Medien zuhauf erhobenen Vorwürfe, er sei korrupt, haben sich nicht bewahrheitet. Den Älteren von uns ist gewiss auch noch in Erinnerung, wie der „Spiegel“ gegen den damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauss zu Felde zog.
Rudeljournalismus kann für die Skandalisierten fatale Folgen haben. Dabei geben oftmals gerade jene Leitmedien den Takt vor, die von den Journalisten selbst besonders intensiv genutzt werden. Insbesondere sind das, wie der Medienforscher Carsten Reinemann (Universität München) herausgefunden hat, „Spiegel Online“ und „Spiegel“, „ Süddeutsche Zeitung“, ARD und ZDF, aber eben auch „Bild“. Verhaltensökonomen und Sozialpsychologen kennen den Effekt seit Jahrzehnten: Wir Menschen – und auch Journalisten sind an diesem Punkt keine Übermenschen – werden leicht zu „Gefangenen von Gruppendenken“. Die Medienforscher Hans Matthias Kepplinger und Bernhard Pörksen haben in klugen Büchern solche Skandalisierungs-Prozesse akribisch nachgezeichnet. Schon vor Jahrzehnten hat der amerikanische Journalismus-Forscher Everette Dennis darauf hingewiesen, wie sehr die Professionalisierung des Journalismus auch zu einer Verengung von Sichtweisen geführt hat.
Manche Themen werden auch ohne Maulkorb ignoriert
Allzu großer professioneller Konsens, der nicht zuletzt auf ähnliche soziale Herkunft, aber auch auf ähnliche Erfahrungen in der Ausbildung zurückführbar ist, mag dann auch dazu führen, dass bestimmte Themen kollektiv in den Redaktionen tabuisiert werden – ohne dass es eine Zensur-Instanz gäbe, die Maulkörbe verhängt. Solches Non-Reporting ist für die Gesellschaft vermutlich gefährlicher als die ein oder andere Medienkampagne, weil damit Themen aus dem Blickfeld geraten, die eigentlich auf die politische Agenda gehörten. Allerdings sind die Beispiele, die hierfür soeben von der Initiative Nachrichtenaufklärung ins Feld geführt werden, nicht gerade umwerfend: 2015 sind es zum Beispiel Schleichwerbung, die Finanzen der politischen Stiftungen und die prekäre Situation vieler Auszubildenden. Da hat man den Eindruck, dass die Jury-Mitglieder selbst zu nah am Medienbetrieb dran sind, um die eigentlichen Tabuthemen aufzuspüren.
Jake Batsell, ein amerikanischer Medienforscher, hat gerade im Nieman-Lab der Harvard University seine Ideen zu einem „engagierten Journalismus“ im Digitalzeitalter publiziert. Demzufolge müssen Journalisten, welche die Möglichkeiten des „Community Building“ in sozialen Netzwerken nutzen wollen, sich von einigen liebgewordenen Arbeitsroutinen trennen. Sie dürfen nicht „nur Fakten und Zitate sammeln und an die Rezipienten verteilen, sie müssen aktiv ihre Publika suchen und Gelegenheiten zur Interaktion schaffen“. Daran gemessen, ist der Kampagnen-Journalismus von „Bild“ immerhin auf der Höhe der Zeit. Und vergleicht man die deutsche Presse mit der Art und Weise, wie derzeit griechische oder italienische Medien Ressentiments gegen Merkel, Schäuble oder die Deutschen mobilisieren, dann ist die hiesige Griechenland-Berichterstattung unter Einschluss der dämlichen Selfie-Aktion der „Bild“-Zeitung weiterhin geradezu musterhaft ausgewogen und vielfältig.
Der Autor leitet an der Universität Lugano das European Journalism Observatory.
Stephan Russ-Mohl