„Anne Will“ über das Corona-Risiko: Für Kitas und Senioren statt für Kicker
Anne Will und ihre Gäste fragen sich, ob die Lockerung der Corona-Maßnahmen zu früh kommt. Ein Fazit der Sendung: Es wird viel zu wenig getestet.
Die Infektionsraten steigen wieder – jeder positiv auf Corona Getestete steckt rechnerisch mehr als einen weiteren Menschen in seiner Umgebung an. Es ist also genau das geschehen, was nicht geschehen sollte – woran liegt es? An den geradezu idiotischen Massendemonstrationen gegen die bisherigen Sanktionen? An den sich für unverwundbar haltenden Mitbürgerinnen und Mitbürgern jüngeren Alters, die rund um den 1. Mai ein großes Begegnungsfest auf den Wiesen und Parks im Zentrum Berlins feierten?
Und da diskutiert Anne Will am Sonntagabend unter dem Motto „Deutschland macht sich locker – ist das Corona-Risiko beherrschbar?“, als habe die Realität die Frage nicht längst mit einem glatten Nein beantwortet?
Dem Ernst der Lage angemessen
Wer jetzt eine Stunde Drama erwartet hat, den muss ich enttäuschen. Ja, es waren Politiker dabei, die, das liegt in der Natur dieses Berufs, sich abgrenzen müssen. Aber die Sozialdemokratin Malu Dreyer, rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin, die wegen ihrer MS-Erkrankung selber zur Risikogruppe zählt, war noch nie in der Krawalltruppe.
Und auch Wolfgang Kubicki, stellvertretender FDP-Vorsitzender mit einer gehörigen Portion Lebenserfahrung und Chuzpe ausgestattet, ist eben auch Jurist und durchaus klarsichtig, nicht nur Poltergeist.
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Beide waren ernst, der Lage angemessen, und die Experten, die Anne Wills Team ihnen an die Seite gestellt hatte, sorgten für eine 60-minütige Lehrstunde in Sachen Seuchenbekämpfung und Lebenshilfe und Einfühlungsvermögen.
Da war die fast zu zurückhaltende Ute Teichert, Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, die erklärte, dass der Umgang mit Infektionskrankheiten zur Arbeitsbasis ihres Berufstandes gehört, und dass sie und ihre Kollegen das trotz aller skandalösen Sparmaßnahmen am öffentlichen Gesundheitsdienst auch zu leisten bereit und fähig seien.
Da war Peter Dabrock, ehemaliger Vorsitzender des deutschen Ethikrates, der beeindruckend und nachdrücklich Zweifel anmeldete, warum die begrenzten Testkapazitäten für teure Berufskicker genutzt werden, statt für Kitas und Altenheime.
Und da war vor allem Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, eine Wissenschaftlerin, die das dauernde Testen von möglichen Kontaktpersonen Infizierter als geradezu überlebenswichtig darstellte und knallhart sagte: Wir reden hier über Jahre, nicht über Monate.
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Stunde der Aufklärer
Das lernte man in dieser Stunde sehr nachdrücklich: In Deutschland wird viel zu wenig darauf getestet, ob Menschen mit dem Virus in Kontakt kamen. Je mehr man über dessen Verbreitung weiß, desto schneller lassen sich Infektionsketten erkennen und durchbrechen. Und, um die Frage nicht zu verschweigen, ob in der Debatte über das weitere Vorgehen Lockerung oder Strenge à la Merkel richtig sind: Vorsicht ist immer gut. Aber das föderale System Deutschlands ist heute sehr gut in der Lage, lokale und regionale Besonderheiten zu reflektieren und darauf zu reagieren.
Den einen oder anderen mag es enttäuschen: Aber dies war die Stunde der Aufklärer. Und Malu Dreyer, die Ministerpräsidentin, will sich auch dafür einsetzen, dass die Krankenkassen die vielen Test zahlen. Eigentlich logisch – für die Krankenhauskosten müssten sie ohnedies aufkommen, wenn sie beim Testen sparen.