"Anne Will" zu Italien und Österreich: Europa zwischen Vision und Wirklichkeit
Während Österreich noch die Stimmen auszählte, saß Innenminister Wolfgang Sobotka schon bei Anne Will. Die Schuld an der politischen Stimmung suchte er auch nicht im eigenen Land.
Was Anne Will sich da vorgenommen hatte, glich journalistisch durchaus dem gerne zitierten Ritt auf der Rasierklinge: Steht Europa auf der Kippe – das wollte sie an einem Abend diskutieren, an dem aus Österreich scheinbar verlässliche, aber dennoch sich ständig verändernde Prognosen über die Präsidentenwahl vorlagen und man über das Ergebnis des italienischen Referendums noch gar nichts wusste.
Um 19 Uhr noch, knapp drei Stunden vor der Will-Sendung, führte in Österreich der Grüne Alexander Van der Bellen in den Hochrechnungen mit rund sieben Prozent vor dem FPÖ-Kandidaten Norbert Hofer. Als Anne Will um 21.45 Uhr ins On ging, war der Vorsprung auf 3,4 Prozent geschrumpft. Dass in dieser Situation der österreichische ÖVP-Innenminister Wolfgang Sobotka, der immerhin auch in Personalunion Bundeswahlleiter in Österreich war, überhaupt in Wills Berliner Studio auftrat, war schon mutig. Eigentlich wäre sein Platz an diesem Abend in Wien gewesen und nicht in einer Talkshow.
Dass er kam, war dennoch lehrreich, denn was er sagte, erklärte doch viel über das Unbehagen der österreichischen Wähler und die Realitäten im Alpenstaat. Mit den Kandidaten der etablierten Parteien seien seine Landsleute nicht einverstanden gewesen, sagt er, die Fakten mit leichter Hand einebnend.
Tatsächlich haben die Bewerber der ÖVP und der SPÖ, der ewigen Koalitionsparteien in Wien also, im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen knapp über elf Prozent erreicht gehabt, und waren damit erbärmlich gescheitert. Warum? Weil die Österreicher von dem Jahrzehnte währenden Machtgeschiebe zwischen diesen Parteien einfach die Nase voll haben. Sobotka aber wechselt das Thema und schiebt alle Schuld am Unbehagen über Europa auf die nicht funktionierenden Institutionen. Europa sei unfähig, Probleme zu lösen. Sowohl beim Euro als auch in der Flüchtlingsfrage sei die EU gescheitert, allein deshalb hätten die Nationalstaaten aktiv werden müssen.
Sobotka bewertet Hofer erstaunlich milde
Genau das Gegenteil diagnostizierte die eloquente Professorin Ulrike Guérot, die sich auch von Sobotka nicht unter den Flachtisch reden ließ. Europas Dilemma seien die mangelnden Kompetenzen der europäischen Institutionen, vor allem des Parlamentes, befand sie – man kann das illusionistisch oder idealistisch nennen. Der FPÖ-Kandidat für die Präsidentschaftswahl habe ein menschenverachtendes Vokabular benutzt, hielt sie Österreichs Innenminister entgegen, der – vielleicht sich einer gewissen Neutralität verpflichtet fühlend – den FPÖ-Mann Hofer mit erstaunlicher Milde bewertete. Vielleicht lag‘s ja auch daran, dass nicht nur insgeheim in Österreich sowohl die ÖVP als auch die SPÖ auf unteren Ebenen mit den FPÖ-Leuten schon lange heftig kungeln.
Was gab's noch? Ursula von der Leyen, sonst so durchdringend redefreudig, fand nicht recht ins Gespräch. Und Dirk Schümer, neben Will der zweite Journalist in der Runde, reihte sich in seiner EU-Kritik (die Reichen werden immer reicher und die Armen immer ärmer) eher bei Wolfgang Sobotka ein.
Wie die Sendung wohl gelaufen wäre, wenn Hofer und nicht Van der Bellen in den Prognosen vorne gelegen hätten, darf man nur vermuten. Wahrscheinlich wären dann wirklich die Fetzen geflogen. So wurde einfach viel durcheinander geredet, und jeder durfte sich bestätigt oder missachtet fühlen, je nach persönlicher Einschätzung.