Neue deutsche Medienmacher: Ein Jubiläum und eine Kartoffel für Julian Reichelt
Mehr Farbe in den Redaktionen: In zehn Jahren haben die "Neuen deutschen Medienmacher" einiges erreicht. Den "Bild"-Chef konnten sie aber nicht überzeugen.
Am Anfang war etwas Urdeutsches: Der Stammtisch. „Wir hatten alle dieselben Probleme“, sagt Konstantina Vassiliou-Enz. Die hießen: Immer wieder auf die für Journalisten seltenen türkischen, arabischen oder indischen Familiennamen angesprochen zu werden. Auf Migrationsthemen festgelegt zu sein. Oder gar nicht erst reinzukommen in den Beruf und trotz bester Zeugnisse und Ausbildung immer nur Absagen zu kassieren.
„Und wir kannten uns ja alle, bundesweit waren wir gefühlt etwa 200.“ Die Runde war also rasch organisiert, in der man sich erst einmal ausheulen – dann aber zur Tat schreiten wollte. Auch die war so deutsch wie Kartoffelsalat: Ein Verein wurde gegründet, die „Neuen deutschen Medienmacher e.V.“ (NdM).
Wörterbuch der Einwanderungsgesellschaft soll schreiben helfen
Das war vor zehn Jahren. Inzwischen ist NdM zu einer wichtigen Treiberin des Wandels in deutschen Redaktionen geworden, personell wie inhaltlich. Hießen bis dahin nur magere vier Prozent der Redakteurinnen und Reporter in Zeitungen, Funk und Online-Medien anders als Müller, Meier, Schulze, so sind es heute sichtbar mehr. Der kleine gemeinnützige Verein betreibt ein Mentoringprogramm, in dem junge Journalisten mit Migrationshintergrund und „People of Colour“ von alten Hasen des Gewerbes gecoacht und in die richtigen Praktika gelotst werden.
Er betreut den „Vielfaltfinder“, der Redaktionen Fachleute anderer Herkunft vermittelt, bietet Weiterbildung an, hilft geflüchteten Kolleginnen und Kollegen. Zum Tagesspiegel-Projekt #jetztschreibenwir steuerten die Neuen deutschen Medienmacher Kontakte zu Exiljournalisten bei. 2014 entstand das „Glossar“, eine Art Wörterbuch der Einwanderungsgesellschaft, das Redaktionen helfen soll, ihre Sprache auf den aktuellen Stand zu bringen.
Von A wie „Abschiebung“ bis Z wie „Zigeuner“ werden entweder juristische Sachverhalte oder die Unmöglichkeit eines Begriffs erklärt. Zum Z-Wort heißt es darin, es sei ein Konstrukt, das „negative oder romantisierende Stereotype zuschreibt und nichts über das Selbstverständnis der so Bezeichneten aussagt“.
Freche Sprüche und viel Überzeugungsarbeit
„Unmöglich“ würden die NdM-Macherinnen – zwei Drittel der 272 Mitglieder sind Frauen – freilich nicht sagen. „Wir agitieren nicht, wir appellieren ans journalistische Berufsethos, ans Handwerk“, sagt Geschäftsführerin Vassiliou-Enz, eine gelernte Hörfunkfrau. Wozu unter anderem gehört, dass sie und andere erfahrene Kolleginnen und Kollegen Redaktionen besuchen - meist, wie sie betont, auf deren eigenen Wunsch –, mit Intendantinnen und Chefredakteuren reden oder Blattkritiken übernehmen, um klarzumachen, wo die Berichterstattung nonchalant Vorurteile weiterreicht, Betroffene nicht hört oder warum es keine Geschmacksfrage ist, ob in einer Redaktion auch das knappe Viertel der Bevölkerung mit Einwanderungsgeschichte vertreten ist. „Wir hören dann oft Protest“, sagt Vassiliou-Enz lachend, „aber Tage später merken wir beim Zeitunglesen, dass etwas angekommen ist.“
Hilfreich dürfte sein, dass die NdM nicht nur nicht belehren wollen, sondern auch auf den Faktor Spaß setzen. „Wir sind so gut und trotzdem ignoriert ihr uns“ – das wäre ein langer Satz und ein Lamento. Bei den NdM wird ein Augenzwinkern draus: „Wir wären dann so weit“ heißt es auf ihren Flyern und Plakaten. Für die Kampagne mit flimmerndem TV-Testbild und dem Slogan „Vom Farbfernsehen hatten wir uns mehr versprochen“ räumte die Deutsche Telekom den NdM bundesweit kostenlos Werbeflächen frei.
Die AfD macht die Neuen Medienmacher zum Thema im Bundestag
Überhaupt, Kosten: Der Löwenanteil der Arbeit der NdM ist nach wie vor ehrenamtlich, Geld von Stiftungen oder Behörden gibt es für Projekte wie das Mentoringprogramm oder die lokalen NdM-Netze, die mehr Farbe auch in möglichst viele Lokalredaktionen tragen soll. Das rief kürzlich die AfD auf den Plan, die den NdM vorwarf, sie agitierten mit Staatsgeld gegen die Partei. Die Bundesregierung beantwortete die Kleine Anfrage der Bundestagsfraktion, aber auch die NdM reagierten– mit einer Lektion in deutschem Vergaberecht.
Man möge doch „einfach mal nachlesen, wie sauber geregelt, gut kontrolliert und demokratisch legitimiert das Förderwesen für die aktive Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik so funktioniert.“ Abgeordnete bekämen nebenbei Steuergelder dafür, derlei zu wissen.
Zehn Jahre nach Gründung der Neuen Deutschen Medienmacher gibt es immer noch Selbsthilfe am Stammtisch, auch außerhalb Berlins, und gelacht wird weiter. Zur Jubiläumsfeier an diesem Samstag unter anderem über die „Goldene Kartoffel“. Die unter der Erde wachsende Knolle wollen die NdM ab sofort für besonders „unterirdische Berichterstattung“ über die Einwanderungsgesellschaft vergeben. Erstpreisträger und „Bild“-Chef Julian Reichelt sah erst keinen Grund, sich zu zeigen, twitterte dann aber kurz vor dem Festakt am Samstag: „Ich komme. Halten Sie mir einen Platz frei.“
Bild-Chef Reichelt will keine Kartoffel
Er kam tatsächlich, in Begleitung des "Bild"-Nachrichtenredakteurs Mohammad Rabie, eines Syrers, der 2015 nach Deutschland floh. Der hielt nach der ironisch-bissigen Laudatio von NdM-Vorstand Sheila Mysorekar seinerseits eine Eloge auf den Chef und das Blatt und bekannte nicht nur, sich über die Goldene Kartoffel für Reichelt geärgert zu haben, sondern selbst einige der beanstandeten Schlagzeilen - zu den Ereignissen von Chemnitz im Sommer und kürzlich zur Gruppenvergewaltigung in Freiburg - gemacht zu haben.
Reichelt hatte sich zuvor gegen den Vorwurf der NdM verteidigt, "Bild" habe unter ihm "eine Rolle rückwärts hingelegt", berichte besonders verzerrt über Migranten und verletze dabei journalistische Standards. In den Texten des Blatts, so Mysorekar, "hat jeder Ausländer ein Messer in der Hand, in der andern einen Asylantrag, und mit der dritten Hand geht er einer Blondine an die Wäsche".
Ihre erste Goldene Kartoffel müssen die NdM allerdings vorerst behalten - Reichelt will kein Preisträger sein. Begründet hat er das mit der neuen Symbolkraft des Gemüses. Als Schimpfwort spiele die Kartoffel auf deutschen Schulhöfen inzwischen keinesfalls die liebenswerte Rolle, die der Verein ihr zuschreibe.
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