Deutschlands kleinste Tageszeitung: Ein Fenster zur Welt
Taubblinde sind von der Gesellschaft weitgehend isoliert. Die kleinste Tageszeitung Deutschlands will ihre Situation verbessern.
Als Heinrich Nell ein Junge war, bescheinigte ein Kinderarzt seinen Eltern, der Junge sei intelligent. „Nur faul ist er“, sagte der Arzt und täuschte sich. Nell ist von Geburt taub. Zusätzlich setzte in der Jugend eine Sehbehinderung ein. Heute ist Heinrich Nell taubblind. Damit ist der Kölner einer von rund 6000 Menschen in Deutschland mit dieser doppelten Behinderung. Besonders unter der Ausgrenzung aus der Gesellschaft im Alltag leidet er. Nell kann nicht einkaufen, nicht im Haushalt helfen oder im Garten arbeiten. Gespräche mit Fremden können Menschen wie er nur führen, wenn diese lormen können – eine Art der Kommunikation durch Tasten auf der Handfläche. Eine der wenigen Verbindungen zur Außenwelt stellt eine Taubblindenzeitung mit Sitz in Berlin-Mitte dar. „Wenn sie eingestellt würde“, sagt Nell, „wäre das eine Katastrophe, dann verblödet man ja.“
Um das zu verhindern, schreibt Christine Günzel seit 13 Jahren für das „Tagesnachrichtenblatt für Taubblinde“. Mit aktuell 50 Abonnenten ist das Blatt die kleinste Zeitung Deutschlands. Seit 31 Jahren erscheint die Taubblindenzeitung fünf Tage pro Woche. Herausgegeben wird das Blatt vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV), Herz und Kopf der Zeitung ist Christine Günzel.
Sie leitet das Politik-Ressort im In- und Ausland, sie betreut das Feuilleton, schreibt die Sportnachrichten und den Wetterbericht. Sie ist gleichzeitig Chefredakteurin und Korrekturleserin, sie betreut die Kunden und kümmert sich um den Versand. Günzel organisiert die Taubblindenzeitung in Eigenregie – obwohl sie selbst blind ist.
Schon bei ihrer Geburt in Görlitz hatten ihre Augen nur zwei Prozent Sehkraft. „Umrisse und Schatten, mehr kann ich nicht erkennen“, sagt sie. Als Kind besuchte sie eine Blindenschule in Königs Wusterhausen, später machte sie eine Kaufmännische Ausbildung im nordrhein-westfälischen Soest und arbeitete in einem Call Center. „Eher langweilig“ sei das gewesen, sagt sie.
Als Zeitungsmacherin hat sich das geändert. Mithilfe einer synthetischen Sprachausgabe wertet sie jeden Morgen die Nachrichtenlage anhand verschiedener Newsletter von der Deutschen Welle und Deutschlandradio aus und entscheidet, was für ihre Leser interessant ist. Vor allem Politik aus Deutschland und der Welt findet sie wichtig. Diese Woche schreibt sie viel zur Lage in Katalonien und über die Jamaika-Sondierungen, aber auch über die Freilassung eines bosnischen Ex-Kommandeurs. Günzel ist ein politischer Mensch, nicht nur bei der Arbeit. „Die RBB-,Abendschau’ ist für mich Pflichtprogramm“, sagt sie. Feuilleton-Nachrichten schreibe sie nur wenig, da Taubblinde kaum am Kulturbetrieb partizipieren könnten. „Manchmal beschweren sich meine Leser, dass ich zu wenig Sportnachrichten mache, aber dafür fehlt mir einfach der Platz.“
Günzel schreibt ihre Artikel in der Braille-Kurzschrift
Zehn bis zwölf Seiten schreibt sie täglich, möglichst in einfacher Sprache. Die Brailleschrift, die gestanzte Blindenschrift, benötigt zusätzlichen Platz. Für ein DIN-A4-Blatt in Normalschrift braucht es in der Brailleschrift etwa drei Seiten. Günzel schreibt ihre Artikel in der sogenannten Braille-Kurzschrift, eine Art Stenografie. Die verstehen nicht alle ihre Leser, deshalb produziert sie zwei Ausgaben. Montags, wenn Günzel an der ersten Zeitung der Woche arbeitet, braucht sie länger. Weil sie die Nachrichtenlage des Wochenendes aufarbeitet, wird das Blatt vier bis acht Seiten dicker. Ihr Anspruch ist es, ihrer kleinen Leserschaft ein Fenster zum Weltgeschehen zu öffnen.
„Für Sehende sind Tageszeitungen vollkommen normal, für Taubblinde bedeuten sie ein kleines Stückchen Selbstbestimmtheit“, sagt Reiner Delgado, der beim DBSV Referent für Taubblinde ist. Menschen, die den ganzen Tag auf Assistenz angewiesen sind, könnten frei entscheiden, ob und wann sie eine Zeitung lesen. Es sei nötig, auch teure Projekte wie die Taubblindenzeitung zu erhalten. „Zu einer inklusiven Gesellschaft müssen auch Dinge gehören, die sich wirtschaftlich nicht rechnen.“
Dieses Denken finde in weiten Teilen der Medienlandschaft nicht statt, kritisiert Delgado. Selbst für Sehbehinderte gebe es zu wenig inklusive Angebote. „Gerade die Privatsender machen da gar nichts“, sagt er. Bei den Öffentlich-Rechtlichen gebe es Audiodeskription, also eine Beschreibung des Visuellen, bei Spielfilmen wie dem „Tatort“. Bei der Fußball-WM in Brasilien gab es bei den deutschen Spielen einen zweiten Kommentator für Sehbehinderte. „Da tut sich was“, sagt Delgado. Taubblinden nutzt dieser Service allerdings nichts. Ihnen bleiben Bücher in Brailleschrift, über Fernleihbibliotheken zu beziehen. Ein richtiger Genuss sei das aber nicht, sagt Delgado. „Allein der erste Teil von Harry Potter war sieben Aktenordner dick.“
Delgado, selbst erblindet, setzt sich seit Jahren für eine bessere Teilhabe von taubblinden Menschen ein. Zum heutigen Aktionstag der Vereinten Nationen für Sehbehinderte, dem „Internationalen Tag des weißen Stockes“, kann er auf einen Erfolg zurückblicken: Seit dem Jahreswechsel haben Taubblinde im neuen Teilhabegesetz eine eigene Kennzeichnung im Behindertenpass. Das allein reicht aber nicht, spezifische Vergütungen, wie der Anspruch auf Assistenz im Alltag, fehlen weiter. Nur einen Vorteil hat die Kennzeichnung bisher: Die Befreiung vom Rundfunkbeitrag.
Auch Heinrich Nell würde sich „wünschen, dass unsere Behinderung in allen Bereichen berücksichtigt wird“. Vor seiner Haustür wurde eine Ampel durch einen Kreisverkehr ersetzt, seither kann er nicht allein über die Straße. Die Taubblindenzeitung ist für Nell ein Stückchen Integration. Das Abonnement ist kostenlos. Seit April liest er das Blatt, mit der Nachrichtenauswahl von Günzel ist er sehr zufrieden. Die Redakteurin freut das Lob. „Dass ich helfen kann, Menschen etwas von der Welt zu erzählen, ist Teil meiner Motivation.“
Nur eines bedauert Günzel. „Meine Leserschaft ist drastisch zurückgegangen.“ Früher habe sie rund 100 Abonnenten gehabt, viele ältere Leser seien verstorben. Junge Leser zu gewinnen sei schwierig. „Viele junge Taubblinde informieren sich lieber selbst über das Internet“, sagt sie. Um aktueller zu sein, verschickt sie ihre Zeitung inzwischen auch per Mail. Mit einer am Computer angeschlossenen Braillezeile, die Schriftzeichen vom Bildschirm zu Zeichen an der Tastatur umwandelt, können die Taubblinden bereits nachmittags die Nachrichten lesen. Heinrich Nell nutzt das Angebot, er will informiert bleiben.
Informationen zu Taubblindheit
unter: dbsv.org/taubblind.html
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