„Bild“ und der Schweinefleisch-Titel: „Die Richtung des Diskurses beeinflussen“
Wenn die „Bild“ titelt: „Kita streicht Schweinefleisch für alle Kinder“. Was kann das bei den Lesern auslösen? Ein Interview mit Wirkungsforscher Pablo Jost.
Pablo Jost ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Publizistik der Universität Mainz.
In der Dienstagsausgabe titelte die "Bild"-Zeitung: "Kita streicht Schweinefleisch für alle Kinder." Später sollen Polizeiwagen vor die Einrichtungen in Leipzig gefahren sein. In Teilen des Netzes tobt die Empörung über die Kita-Maßnahme, andere sagen, "Typisch Bild, kann nur Menschen aufhetzen". Ist der "Bild"-Zeitung wirklich solche Wirkungsmacht zuzuschreiben?
Die "Bild"-Zeitung ist trotz sinkender Auflage das Medium mit der größten Reichweite auf dem deutschen Zeitungsmarkt. Wenn das Blatt etwas auf ihre Titelseite nimmt, wird dies zumindest von 1,5 Millionen zahlenden Leser wahrgenommen. Hinzu kommen Menschen, die mit dem Artikel durch die Verbreitung in sozialen Medien in Kontakt kommen. Die Berichterstattung der "Bild" lenkt damit zumindest Aufmerksamkeit auf ein Thema und schreibt ihm durch die prominente Platzierung eine gewisse Relevanz zu. Die primäre Wirkung besteht also darin, ein Thema auf die öffentliche Agenda zu setzen. Gleichzeitig wird durch die Rahmung eines Themas - in diesem Falle die Verknüpfung von Islam und der vermeintlichen Einschränkung der "Mehrheitsgesellschaft" - die Richtung des folgenden Diskurses beeinflusst.
Was weiß die Medienforschung tatsächlich? Ist das Reiz-Reaktions-Muster zu simpel?
Ja. Das sogenannte Stimulus-Response-Modell gilt in der Kommunikationswissenschaft als überholt. Vielmehr spielen bei der Verarbeitung von Informationen das Interesse und das Wissen zu einem Thema sowie korrespondierende Voreinstellungen der Individuen eine zentrale Rolle. Wissen und Voreinstellungen werden durch persönliche Erfahrungen, interpersonale Kommunikation und Medienbotschaften gebildet.
Welche Faktoren, welches Umfeld können die Wirkung eines (Medien-)Inhaltes befördern?
Wenn Menschen umfangreiches Vorwissen und stabile Einstellungen zu einem Thema haben, sind sie in der Lage, Gegenargumente aus ihrem Vorwissen zu formulieren, wenn der Artikel ihren Einstellungen widerspricht. Zudem selektieren Menschen insbesondere jene Informationen aus Medienbotschaften, die mit ihren Einstellungen übereinstimmen, und erinnern diese später auch eher als Informationen, die ihren Voreinstellungen entsprechen. Gefestigte Einstellungen werden von einzelnen Medienbotschaften also kaum verändert. Wahrscheinlich ist, dass vorhandene Einstellungen eher gefestigt werden.
Schaden derartige Artikel der Glaubwürdigkeit eines Mediums oder wird sie dadurch gerade gefördert? Motto: "Hier wird nichts aus Rücksicht verschwiegen".
Die Glaubwürdigkeit von Medien und deren Inhalt hängt von verschiedenen Faktoren ab. So unterscheidet sich die Zuschreibung von Glaubwürdigkeit zwischen verschiedenen Medienformaten und hängt zudem vor der Erfüllung bestimmter Qualitätsstandards ab. Allerdings zeigen neuere Studien, dass die Glaubwürdigkeit von der Berichterstattung zwischen verschiedenen Themenkomplexen schwankt. So wird die Glaubwürdigkeit der Berichterstattung über die sogenannte "Flüchtlingskrise" oder den Dieselskandal - also bei polarisierenden Themen - als weniger glaubwürdig wahrgenommen. Unsere Untersuchungen zeigen, dass die Zuschreibung von Glaubwürdigkeit stark von den Voreinstellungen der Rezipient*innen abhängt. Entspricht ein Artikel der eigenen Voreinstellung zum Thema, so wird dieser als glaubwürdiger wahrgenommen, während ein dissonanter Artikel als weniger glaubwürdiger wahrgenommenen wird. Für den konkreten Fall kann man deshalb vermuten, dass die Menschen, die im Verzicht auf Schweinefleisch eine Gefahr für die westliche Lebensweise sehen, sich bestätigt fühlen und den Artikel als glaubwürdig wahrnehmen. Menschen mit einer gegenläufigen Voreinstellung werden den Artikel als wenig überzeugend wahrnehmen. Allerdings ist anzunehmen, dass ein einzelner Artikel kaum die relativ stabile Glaubwürdigkeitszuschreibung für ein Medium verändert.
Medien weiterhin Taktgeber im Diskurs
Berichte, Meldungen über Flüchtlinge, Migranten, Integration: Bestimmen die klassischen Medien überhaupt noch den Diskurs?
Die Medien sind noch immer relevante Taktgeber im öffentlichen Diskurs. Sie bereiten Themen auf und machen Rezipient*innen Lebensbereiche zugänglich, ohne die sie durch Medien keinen Zugang haben. Allerdings spielen im Kontext der Digitalisierung auch andere Informationsquellen eine zunehmend gewichtigere Rolle. Informationen über Ereignisse und Themen können von beteiligten Akteuren direkt an ein großes Publikum verbreitet werden. Aber hier kommt es stark auf die Reichweite der entsprechenden Akteure an. Auch in den digitalen Kanälen können nur wenige Akteure mit der Reichweite klassischer Massenmedien mithalten. Dennoch lässt sich feststellen, dass sich journalistische Routinen durch die Digitalisierung hin zu einer stärkeren Orientierung am Publikum verändert haben. Die Medien reagieren auf die Kommunikation im Netz, Shitstorms werden Anlass für Berichterstattung in klassischen Massenmedien.
Müssen die etablierten Medien in dieser gereizten Gesellschaft besondere Sorgfalt walten lassen?
Medien müssen grundsätzlich Sorgfalt walten lassen. Das Grundproblem der Medien sind der journalistische Anspruch und die gesellschaftliche Verantwortung auf der einen Seite und die Klick- und Verkaufszahlen auf der anderen Seite. Die skandalisierte Aufbereitung (vermeintlicher) Normverstöße bringt Aufmerksamkeit und Werbeeinahmen. Allerdings birgt der Fokus auf reißerische und polarisierende Themen die Gefahr, dass auch der gesellschaftliche Diskurs schärfer geführt wird. Auch geraten Themen in den Hintergrund, die weniger spektakulär aufbereitet werden können, aber dennoch von gesellschaftlicher Relevanz sind. Hinzu kommt der Druck, Informationen vor den Wettbewerbern zu veröffentlichen. Das führt letztlich dazu, dass Informationen vor der Veröffentlichung teils unzureichend überprüft und später korrigiert werden müssen. Das kann auf lange Sicht negative Konsequenzen für den Journalismus selbst nach sich ziehen.
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